Der Schmerzsammler: Thriller (German Edition)
hatte sich seit vielen Jahren nichts geändert, und Fran war sich sicher, dass hier Veränderung auch nicht erwünscht war.
Ägidius Bonaventura trat aus der Küche ins Wohnzimmer.Fran hatte einen von Alter und Gram gebeugten Mann erwartet, eben einen Knecht, der unter der Last der Verfehlungen seines Herrn seine Lebenskraft eingebüßt hatte. Aber Ägidius Bonaventura strafte sie Lügen. Seine braunen Augen strahlten Wärme aus und waren hellwach. Er hielt sich gerade wie eine Tanne, war schlanker als auf den Fotos und streckte ihnen eine Hand entgegen, die nur wenige Altersflecken aufwies.
Fran lächelte, nicht nur, um Ägidius Bonaventuras Freundlichkeit zu erwidern, sondern weil sie daran denken musste, wie falsch sie diesen Mann aufgrund seiner Stimme und ihrer Analyse seiner Beziehung zu Solderwein eingeschätzt hatte. Wieder ein Beweis, dass voreilige Schlüsse oft in die Irre führten. Irrte sie sich ebenso mit ihrer Idee vom Serientäter? Hatte sie die Hieroglyphen richtig gedeutet? Wie stark wurde sie von ihrem Ehrgeiz beeinflusst? Sie war mit ihrer These vorgeprescht, keine Frage, aber einer ihrer besten Lehrer, ein erfahrener Profiler aus München, hatte ihr geraten, immer auf ihre Intuition zu hören. Und immer bereit zu sein, von der schönsten These Abschied zu nehmen, ohne sich darüber zu ärgern, vor allem, ohne das Gefühl zu haben, versagt zu haben. Sie horchte in sich hinein. Alles blieb, wie es war.
»Nehmen Sie Platz. Kaffee?«
Fran und Senior nickten und machten es sich in zwei tiefen samtbezogenen Ohrensesseln bequem. Ägidius Bonaventura reichte Kaffee und Gebäck, und Fran kam gleich zur Sache.
»Wir sind sehr dankbar, dass Sie mit uns über Friedrich von Solderwein reden wollen.«
Ägidius Bonaventura trank einen Schluck aus seiner Tasse, echtes Meißner Porzellan, auf den ersten Blick der wertvollste Gegenstand in der Wohnung.
»Ich weiß nicht, warum ich mit Ihnen über Friedrich sprechen sollte. Er ist tot.«
Er nahm einen Keks, knabberte ein wenig daran und legte ihn wieder weg. Dann faltete er die Hände, Fran schwieg, und auch Senior war feinfühlig genug, sich zurückzuhalten. Ägidius Bonaventura schien in seinen Erinnerungen zu graben, aber vielleicht überlegte er sich auch nur sehr genau, ob er wirklich nicht mit ihnen sprechen wollte.
»Weil das kein Zufall war«, sagte Fran. Wenn er nicht der Knecht gewesen war, dann hatte er eine andere Funktion gehabt. Vielleicht auch beides. »Weil Sie ihn immer beschützt haben. Das müssen Sie auch jetzt. Wer hat ihm das angetan?«
»Friedrich!« Es klang überrascht, so, als hätte Ägidius Bonaventura lange nicht an Solderwein gedacht. »Sein Grab wurde geschändet, nicht wahr?«
Fran stellte ihre Tasse ab. »Das wissen wir noch nicht mit Gewissheit.«
Ägidius Bonaventura hob die gefalteten Hände und legte die Zeigefinger an die Lippen, sodass er aussah wie Frans Klassenlehrer in der Grundschule, wenn er über eine heikle Angelegenheit nachdachte. »Aber es ist doch mit Blut beschmiert worden. Mit Hühnerblut und dem Kadaver des Tieres.«
Ägidius Bonaventura hatte das Grab gesehen, natürlich. Es musste furchtbar für ihn sein.
Fran spürte einen Stich in der Brust und nickte. »Das ist korrekt. Aber es muss keine Schändung gewesen sein, es kann auch ein anderes Motiv dahinterstecken.«
Ägidius Bonaventura hob das Kinn. »Das verstehe ich nicht. Ist ein Grab denn nicht geschändet, wenn es besudelt wird, noch dazu mit Hühnerblut? Ich gebe zu, Schweineblut wäre noch schlimmer, aber Hühnerblut reicht völlig aus.«
Auf jeden Fall war Ägidius Bonaventura kein Dummkopf. Aber Knechte mussten nicht dumm sein, im Gegenteil, oftwaren sie schlauer als ihre Herren, mussten es sein, um nicht unterzugehen.
»Das ist eine Frage der Definition und der Perspektive, aber auch eine Frage der Beweggründe, die die Täter dazu gebracht haben, ein Huhn auf diesem Grab zu schlachten. Es könnte sein, dass die Täter Friedrich damit nicht beleidigen wollten, sondern ehren, vielleicht sogar seinen Segen erbaten.« Sie benutzte jetzt den Vornamen Solderweins, um eine emotionale Beziehung zu Ägidius Bonaventura herzustellen. Nur wenn ihr das gelang, wenn sie ihm klarmachen konnte, dass sie seinem Schützling – oder seinem Herrn – nicht schaden wollte, nur dann würde er vielleicht reden.
Ägidius Bonaventura stieß einen belustigten Laut aus. »Ehren? Das ist aber eine seltsame Art, jemanden zu ehren.«
Fran war froh, dass
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