Der Schmetterlingsbaum
erst dreiundsiebzig und bei guter Gesundheit, und ich war wirklich schockiert – , sah sie mich überrascht an, dann sagte sie bloß: »Dort sind Leute.« Ich war ein bisschen gekränkt; schließlich wusste sie, dass ich einen Monat später mit der Arbeit im Schutzgebiet anfangen sollte und natürlich nicht vorhatte, irgendwo anders zu wohnen als im Farmhaus. Als wir das wenige zusammenpackten, das sie mitnahm, war ich den Tränen nahe, sagte aber nichts. Meine Mutter hingegen sagte etwas, als sie zum letzten Mal durch die Haustür auf die Veranda hinaustrat. »Jetzt hast du dein eigenes Leben«, kommentierte sie. Natürlich wollte sie mich mehr unter Menschen oder als Teil einer Gemeinschaft sehen. Vielleicht machte es ihr Sorgen, dass ich die Universität verließ, wo ich zehn Jahre lang an dem leicht zugänglichen, in meinem Fall allerdings nicht besonders regen sozialen Leben teilgehabt hatte, das dort existierte. Aber dann, als ich an diesem verregneten Tag, nachdem ich meine Mutter in ihren drei kleinen Räumen untergebracht hatte, im rückwärtigen Schlafzimmer aus dem Fenster blickte, fand ich die kontrastlose, undurchsichtige Lasur über den scheinbar unbewohnten Ortschaften in der Ferne fast tröstlich, als blickte ich in eine Abbildung meines eigenen Charakters. Ich bin eine Einsiedlerin, dachte ich. Ich kann keine Festivals besuchen, nicht bei Demonstrationen mitgehen, nicht an Kollegiensitzungen teilnehmen oder irgendeinen Mannschaftssport ausüben, ohne dass ich mich herumgescheucht, gefangen, fremdbestimmt fühle. Ich gehöre hierher.
Die Eckwohnung meiner Mutter ist im Erdgeschoss und hat Schiebetüren, die in den wärmeren Monaten den Wind hereinlassen und auf eine private Terrasse hinausführen. Ich fülle ihre Vogelkästen auf und sehe dem Kommen und Gehen der Spatzen zu. Durch das Fenster gegenüber fällt der Blick auf eines dieser semiurbanen Geschäftszentren, wie sie heutzutage anscheinend alle ländlichen Gemeinden haben müssen, und manchmal blicke ich, wenn ich ihr zuhöre, auf die Pizzabuden und Waschsalons hinaus statt auf Gebüsch und Vögel. Eine merkwürdige Kombination: die Erinnerungen an ihr Leben auf der Farm, die Vögel in der Wintersonne und dieser Ort, der mit Rücksicht auf die bäuerlichen »Senioren«, deretwegen die Anlage gebaut wurde, nach einem Morgen Ackerland benannt ist. Es gibt hier auch einen Minimarkt, eine Autowaschstraße, ein Geschäft für Büromaterial.
Vor etwa sechs Monaten fragte ich sie direkt, ob sie sich an Teo erinnere. Sie hatte über Mandy gesprochen, deren Tod sie tief verstört hatte. »So ein reizendes Mädchen«, sagte sie immer wieder, »und so klug, so tüchtig. Ihr Vater wäre so stolz gewesen.«
Stolz worauf? Dass es ihr gelungen ist, ihn zu überleben, eine Zeitlang wenigstens? »Erinnerst du dich an den mexikanischen Jungen?«, fragte ich.
Zu meiner Verwunderung schüttelte sie den Kopf. »Ich glaube nicht«, sagte sie und blickte zum Fenster hinaus, wo ein paar Vögel am Futterhäuschen pickten. »Das könnte doch irgendeine Drosselart sein.« Sie griff nach dem Fernglas, das sie immer auf dem Fensterbrett stehen hatte, aber als sie es in der Hand hatte, war der Vogel, welcher Spezies auch immer, verschwunden.
»Natürlich erinnerst du dich«, sagte ich, fast wütend, doch die Worte kamen eher herablassend als zornig heraus. »Er kam mit den mexikanischen Arbeitern.«
»Die vielen Mexikaner«, sagte sie, »jeden Sommer. Manchmal dieselben, aber oft waren es andere. Hat dein Onkel Stanley nicht mobile Schulcontainer als Unterkünfte für sie aufgestellt? Ja, ich glaube wohl – zumindest am Anfang, als noch nicht entschieden war, ob er sie behalten sollte.«
Das war mir neu. Die ersten Mexikaner waren zwei Jahre vor meiner Geburt auf die Farm gekommen, weshalb ich mich nur an die Baracken und an ein, zwei Wohnwagen erinnern konnte.
»Teo«, sagte ich. »Er hieß Teo.«
»Stanley hatte einen Hund namens Tim«, sagte meine Mutter. »Das schlaueste Tier, das jemals gelebt hat. Er konnte Fußball spielen und tat das auch, das weiß ich noch, mit dir und deinen Vettern.« Sie lachte. »Kopfbälle konnte der schießen, unglaublich. Mandy hat es das Herz gebrochen, als er eingeschläfert werden musste. Den Buben ebenfalls. Sogar deine Tante Sadie musste zugeben, dass … «
»Jaja, den Hund hab ich nicht vergessen«, unterbrach ich sie, »aber ich rede von Teo. Teo spielte mit Tim, und er spielte mit uns. Er kam mit seiner Mutter, jeden
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