Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
Vom Netzwerk:
Familie sind. Aber ich denke, die kleine Familie wird sich mit einer latenten Verunsicherung durch die geografische Verdoppelung bewegt haben: Durch diese Seite des Fernglases betrachtet, sah alles doch etwas anders aus. Es mag an einer Extraportion Ordnungsliebe, Sauberkeit, Wohlstand gelegen haben – die eigene Welt zwar, aber so subtil, fast unmerklich verbessert, dass man die Veränderung zwar spürt, jedoch nicht sagen könnte, worin genau sie besteht. Die auf die Küste zurollenden Wellen bewegen sich in der entgegengesetzten Richtung wie die eigenen Wellen zu Hause, derselbe Mond geht an einer anderen Stelle des Himmels auf, und irgendwie, auch wenn man es sich kaum einzugestehen wagt, kommt einem alles sicherer, selbstbewusster, unabhängiger vor – eben, wie mein Onkel ironisch zu sagen pflegte, »das Größte und das Beste«. Natürlich, und das stimmt eben auch, fühlen wir uns an Orten oder unter Menschen, die uns zu viel Bewunderung abnötigen, nie so ganz wohl.
    Auf dieser anderen Farm gegenüber gab es drei Kinder, Cousins zweiten Grades und annähernd im selben Alter wie die drei vom Nordufer des Sees. Tom bildete nach Alter und Geschlecht ein Paar mit dem Jungen, aus dem mein Onkel Stanley wurde; Rupert, ein Jahr älter, freundete sich mit Harry an; und dann gab es die schon damals beherrschte, selbstsichere Sadie, die eines Tages meine Tante werden sollte, sich vorerst aber mit Beth, meiner Mutter, zusammentat. Auch dort gab es einen Schmetterlingsbaum auf der Farm, so dass meine Mutter und ihre Brüder in manchen Sommern den brennenden Dornbusch auf der Nordseite des Sees sahen und in anderen Sommern dasselbe Wunder im Süden bestaunen konnten. Bis sie vierzehn war, erzählte meine Mutter, dachte sie, jede Farm habe so einen Baum und erlebe das gleiche Phänomen.
    »Einmal«, sagte meine Mutter, »trauten wir unseren Augen nicht, als wir auf der amerikanischen Farm angekommen waren und die Zufahrt entlang aufs Haus zufuhren.« Sie waren in die unmittelbaren Folgen eines Unglücks hineingeraten. Als sie aus dem Wagen stiegen, roch und schmeckte die Luft noch nach Asche und Rauch, und auf dem steinernen Fundament, auf dem Tage zuvor die Scheune gestanden hatte, lag ein Verhau aus verkohlten Balken. Tom, sonst ein tollpatschig energiegeladener Junge, kam diesmal nicht wie die Jahre zuvor aus dem Haus gerannt, um sie zu begrüßen. Er hatte mit Streichhölzern gespielt und aus Versehen die Scheune angezündet, die zwölf Stunden lang unkontrollierbar gebrannt hatte; das war erst zwei Tage her.
    In der Landwirtschaft, wie sie war, und der Kindheit, wie sie ist, muss das eine spektakuläre Tragödie gewesen sein, obwohl alle Tiere überlebten – nachdem hier in erster Linie Obst angebaut wurde, waren es nur fünf: zwei Kühe, ein Pony, zwei Arbeitspferde. Das Pony gehörte Tom, und sein Vater hatte die heroische Leistung vollbracht, es aus seinem Stall in der brennenden Scheune zu retten; er war froh, dass es ihm gelungen war, denn er sorgte sich um Tom, sorgte sich wegen der Schuldgefühle, vielleicht der Verzweiflung, in die der Junge wegen des Vorfalls geraten war. Die Sorge war echt; das Schuldgefühl ebenfalls.
    Aber im Lauf der folgenden Tage trat mit der Art, wie Tom umsorgt wurde, ein theatralisches Element hinzu; zumindest schließe ich das aus den Erzählungen meiner Mutter, und so stelle ich es mir jetzt auch gern vor. Offenbar haftete dem Ereignis und dem Jungen, der es ungewollt verursacht hatte, nun ein gewisser Ruhm an.
    »Tom wurde von seinen Eltern behandelt wie ein rohes Ei«, sagte meine Mutter. »Als wäre er hinfällig gewesen.« Die Kinder durften nicht grob zu ihm sein und ihn nicht verspotten; selbst Sticheleien, die mit der Scheune gar nichts zu tun hatten, waren verboten. Wenn sein Vater in der Stadt etwas zu erledigen hatte, forderte er Tom jetzt immer auf, ihn zu begleiten, was ihm früher wohl nie in den Sinn gekommen wäre, und seine Mutter hielt im Reden oder Arbeiten inne, wann immer der Junge vorbeikam, strich ihm das Haar aus der Stirn und fragte, was er denn gern anfinge mit dem Vormittag, dem Nachmittag, oder ob er vielleicht gern etwas Besonderes zum Abendessen hätte. Kurz und gut, er war bald ein heiliges Kind geworden. Er muss eine eigenartige Aura um sich gehabt haben; der ausgelassene Junge, als den ihn meine Mutter bei früheren Besuchen erlebt hatte, war nicht wiederzuerkennen. Er hatte sich zu einem Miniaturerwachsenen entwickelt, wollte kaum noch mit

Weitere Kostenlose Bücher