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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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seiner Schwester und seinen Cousins herumtollen, sondern lieber mit dem Vater auf dem Feld arbeiten oder ihm helfen, wenn ein Zaun zu reparieren, eine Tür zu streichen war.
    In dieser Zeit wurde ein brachliegendes Feld gepflügt und geeggt, weil mein amerikanischer Großonkel den Entschluss gefasst hatte, im folgenden Jahr neben den Äpfeln auch Erdbeeren anzubauen. Tom wurde ermutigt, sich zu beteiligen, ja er durfte sogar das Gespann lenken, das den schweren Rahmen mit den eisernen Zinken über die Erde zog, und Stanley, mein künftiger Onkel, hätte leidenschaftlich gern mitgemacht. »Aber er wurde wahrscheinlich nicht mal gefragt«, sagte meine Mutter. »Und er selber hätte im Leben nicht darum zu bitten gewagt. Kinder durften damals nie von sich aus was verlangen – wirklich, wir taten immer nur, was man uns befohlen hatte.«
    Aber da war dieser amerikanische Vetter, sein Spiegelbild, sein Doppelgänger, und der wurde mit offenen Armen in eine Welt aufgenommen, die ihm bis dahin als unbetretbares Reich der Erwachsenen erschienen sein musste. Mehr noch: Als hochwillkommener Rekrut wurde er empfangen, der für seine Schwächen und Unsicherheiten nicht etwa verspottet wurde, sondern im Gegenteil besondere Schonung erfuhr.
    Diese liebevolle Fürsorge dürfte dem Kind, das mein künftiger Onkel damals war, nicht entgangen sein; wenn ich meiner Mutter glaube, so gehörten ihr Vater, mein Großvater, und bis zu einem gewissen Punkt auch meine Großmutter zu den Menschen, denen es unangenehm ist, Gefühle zu zeigen. Überraschenderweise aber brachten es meine Großeltern sehr wohl fertig, lange, ernste Diskussionen über Toms missliche Lage zu führen, in deren Verlauf sie zugaben, man müsse Rücksicht auf die Seelenqualen des Jungen nehmen. Dieses Eingehen auf kindliche Gefühle muss ihnen recht fremd gewesen sein – in ihrer eigenen methodistischen Erziehung, deren erstes Gebot lautet, dass man sich und seine Probleme niemals in den Vordergrund stellt, war derlei nicht vorgesehen. Stanley, der wohl das eine oder andere dieser Gespräche mitbekam, muss es als reizvoll und angenehm empfunden haben, wie diese Reden einfühlsam immer wieder um das Innenleben eines bestimmten Jungen kreisten, und wie dieser Junge der Urheber von Großartigem war: einer Nacht der Hitze und der Farben, eines Ereignisses, das Wellen schlug, und in seinem Gefolge einer ausgedehnten Phase der Fürsorglichkeit und Zuwendung.
    Meine Mutter und Sadie nähten während dieser zwei Wochen aus Stoffresten Kleider für ihre Puppen. Dann bauten sie mit Unterstützung durch Ruperts und Harrys Zimmermannskünste ein ausgeklügeltes Puppenhaus aus alten Obstkisten, die sie in einer Scheune gefunden hatten. Außer beim täglichen Schwimmen kam meine Mutter mit ihrem Bruder Stanley nicht mehr zusammen. Und auch dabei wurde er von den anderen Kindern praktisch nicht zur Kenntnis genommen, denn meine Mutter und Sadie hatten sich miteinander in eine Fantasiewelt zurückgezogen, wie es kleine Mädchen gelegentlich fertigbringen, und Harry und Rupert, die älter waren, schwammen in tieferem Wasser und sprangen von beängstigend hohen Felsen. So kam es, dass Stan, das Kind, das mein Onkel damals noch war, meist nichts mit sich anzufangen wusste und nur aus respektvoller Entfernung zusah, wie Tom mit einer Gruppe erwachsener Männer am Rand einer Obstpflanzung herumstand und über die Entwicklung und Besonderheiten verschiedener Apfelsorten fachsimpelte. Stanley muss den Eindruck gehabt haben, dass die abgefackelte Scheune für Tom ein Initiationsritus war, nach dessen Bewältigung er ohne Weiteres in die Mysterien und Zeremonien des Erwachsenendaseins eingelassen wurde.
    Beide Geschwister, meine Mutter ebenso wie ihr Bruder, hatten Angst vor ihrem wortkargen Vater, aber sie bemühten sich immer um sein Wohlwollen, denn sie liebten ihn und legten größten Wert auf seine gute Meinung. Zum Beispiel gab es verschiedene Arbeiten, die vor allem Stanley erledigen musste, und wie meine Mutter berichtet, stürzte er sich immer mit Begeisterung in jede Aufgabe, nur um sich nachher von seinem Vater sagen lassen zu müssen, dass die Äpfel, die er gepflückt hatte, wurmstichig seien oder der von ihm errichtete Brennholzstapel windschief und somit einsturzgefährdet. Außer in den Fächern Lesen und Aufsatz war er in der Schule keine Leuchte (meine Mutter schon), und auch das war ein Stachel in seinem Herzen. Während der Erntezeit wurde er rasch müde, und wenn er oben

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