Der Schmetterlingsbaum
Fäuste, die auf seine Brust trommelten.
Zwei Tage später meldete sich Stanley zum Militär. Zu Fuß ging er die dreißig Meilen nach Windsor, dem Stützpunkt der kanadischen Streitkräfte. Er sprach kein Wort, sagte niemandem, wo er hinging. »Verschwand einfach in die Nacht«, so drückte meine Mutter es aus. Das war Anfang der sechziger Jahre, es herrschte kein Krieg, jedenfalls keiner, an dem unser Land beteiligt war, so dass nichts Romantisches oder Heroisches an seiner Tat war, und als seine Eltern endlich informiert wurden, sahen sie in seinem plötzlichen Abgang keinen Akt der Verzweiflung, sondern eine pragmatische berufliche Entscheidung. Sadie hingegen, die Stanley praktisch wie Luft behandelt hatte, als er noch da war, regte sich über seine Abwesenheit entsetzlich auf und war wie besessen davon – was vielleicht insofern nachvollziehbar war, als in ihrer Heimat zur selben Zeit scharenweise junge Männer nach Vietnam eingezogen wurden. Stanley kam danach zum Marinestützpunkt Halifax an der kanadischen Ostküste und wurde dort, wie er andeutete, zu einer Art Ingenieur ausgebildet. Er blieb vier Jahre.
Kaum hatte sie eine Adresse, begann ihm Sadie Briefe zu schreiben, und sie schrieb ihm weiter, bis sein Dienst zu Ende war. Diese Briefe liegen hier im Haus, und ich gestehe, dass ich ein paar gelesen habe. Darin berichtet sie von ihrer weiteren Schulzeit und dann von den Kursen für Gestaltung an einer Hochschule für Innenarchitektur, die sie belegt hatte; es ist einfach eine Chronik – nichts deutet auf eine beginnende Romanze hin. Aber dass sie ihm überhaupt schrieb, dass ihre Briefe regelmäßig erst in Windsor in Ontario und später am Stützpunkt Halifax, Nova Scotia, eintrafen, muss einen Mann mit Stanleys Fantasie dazu bewogen haben, sich die Gefühle, die meiner Ansicht nach eigentlich nicht da waren, dazuzudichten. Meiner Mutter vertraute er später an, dass er mit Sadies Briefen unter dem Kopfkissen schlief und einen oder zwei sogar auf dem Herzen trug, nachdem er begonnen hatte, auf den Schiffen zu arbeiten, auf denen er, wie ich später hörte, niemals mitfuhr. Ihre Briefe sind unterschrieben mit Alles Liebe, Deine Cousine Sadie . Diese prosaischen Berichte und der kurze Anblick von ihr und seinem ebenso prosaischen Bruder, die sich auf dem Rasen wälzten, ihre Verbindung zum Alltäglichen stellten sein Selbstvertrauen wieder her. Als er nach Hause zurückstolzierte, wundersam erwachsen und bereit, die Farm zu übernehmen, kehrte er in Wahrheit zu ihr zurück, und von Anfang an fuhr er zum anderen Seeufer hinüber, sooft es ging. Drei Monate später waren sie verheiratet.
»Er noch in Uniform, sie in einem vollendet gestalteten weißen Satinkleid«, sagte meine Mutter, während sie in einer Schublade nach dem Hochzeitsfoto kramte. »Es muss hier irgendwo sein, ich weiß es«, sagte sie und fuhr mit der Hand zwischen Briefen und Postkarten und ein paar alten Schnappschüssen von mir als Kind hin und her. Ich hinderte sie nicht daran, obwohl ich wusste, dass sie das Bild gar nicht ins Golden Field mitgenommen hatte; es war noch im Haus. Die Ehe meines Onkels ist zusammengebrochen. Es ist sinnlos, danach zu suchen.
Dass ich Ihnen diese Geschichte jetzt erzähle, bestätigt lediglich meine Überzeugung von der Willkür und Fragwürdigkeit, die am Beginn menschlicher Familien stehen. Welche Rolle spielte beispielsweise der vergessene »unliebsame« junge Amerikaner oder ein durch ein Fenster geschütteter Eimer Wasser beim Zustandekommen der scheinbar unverrückbaren Welt, in der ich selbst als Kind jeden Sommer umherging? Was wäre passiert, frage ich mich oft, wenn mein Onkel nicht zum Militär gegangen wäre? Auch wenn sein Dienst, bei Licht betrachtet, banal war und die damit verbundenen Tätigkeiten – er war, wie man später erfuhr, keine »Art Ingenieur«, sondern ein Nieter auf Schiffen – langweilige, stumpfsinnige Routine, entschieden sie doch über beinahe alles, was später in der Familie geschah. Er war einfach gegangen; hatte sich keinem ruhmreichen Anliegen verschrieben, keine Opfer gebracht. Aber vielleicht stehen Sie zu ruhmreichen Anliegen und Opfern ja anders als ich, weil Sie zurzeit in eine Sache verwickelt sind, die undurchschaubarer und tödlicher ist als alles, was ich je erlebt habe.
Soweit ich weiß, dachte Mandy nie viel über ihres Vaters Militärdienst zu Friedenszeiten nach, aber natürlich wusste sie davon. Zumal es dieses Hochzeitsfoto gab: Ein Mann in
Weitere Kostenlose Bücher