Der Schmetterlingsbaum
auf der Leiter stand, kam es vor, dass er in eine regelrechte Lähmung verfiel. Meine Mutter erinnert sich, wie er einmal weinend, an einen Ast geklammert auf der Leiter stand, während sich sein Vater in Hörweite sämtlicher Arbeiter von seiner sicheren Position am Boden aus über ihn lustig machte. »Du bist zwölf«, schrie er zu ihm hinauf, »und führst dich auf wie ein sechsjähriges Mädchen!« Dann drehte er sich mit demonstrativem Abscheu um und ließ Stanley mit Äpfeln und Laub und Todesangst vor einer, sagt meine Mutter, kaum lebensbedrohlichen Höhe allein. Sie war es schließlich, die nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die anderen Pflücker fort waren, in die Plantage schlich, um ihm gut zuzureden, bis er sich Sprosse um Sprosse die Leiter wieder herunterwagte. Irgendwie hatte sie immer das Bedürfnis, ihren Bruder zu beschützen, ihn notfalls aktiv zu verteidigen. Noch viel e Jahre später, als er den Schwindel nicht mehr fürchtete, sondern suchte, lockte sie ihn von gefährlichen Höhen herab.
Meiner Mutter fiel auf, wie still ihr Bruder auf der Rückreise nach Kanada war, wie er im Auto das Gesicht zum Fenster drehte und den vorbeiziehenden Farmen nachblickte, wie er auf der Fähre am Geländer stand und ins schäumende Wasser starrte. In seiner Geistesabwesenheit, erinnert sie sich, wirkte er beinahe erwachsen, und er hatte denselben Ausdruck im Gesicht, den sie von ihrem Vater kannte, wenn der sich Sorgen um das Wetter machte oder um den Preis für einen Zwanzig-Kilo-Sack Äpfel, oder wenn ihn (denn er war im Grunde ein freundlicher Mann) ein Nachbar beschäftigte, weil er krank war oder ein Problem hatte, das eine Lösung verlangte. Jetzt war die gleiche Versunkenheit im Gesicht und in der Körperhaltung ihres Bruders, und das machte sie stutzig.
Zwei Nächte später, als sie wieder am Nordufer des Sees und in ihrem vertrauten Bett war, wurde sie von schreienden Männerstimmen aus dem Schlaf gerissen. An der Zimmerdecke war ein orangegelbes Wabern, das sich ausweitete und leuchtender wurde und die Wand hinabfloss. Sie sprang aus dem Bett und kniete sich vor das niedrige Fenster ihres Zimmers, und draußen sah sie, im bernsteinfarbenen Widerschein, Autos und Lastwagen, die entweder schon im Hof standen oder die Zufahrt herabkamen, und obwohl sie die Scheune von ihrem Fenster aus nicht sehen konnte, wusste sie, was passiert war, und wer es hatte passieren lassen. »Und ich wusste auch«, sagte sie zu mir, »warum er das getan hatte.«
Am nächsten Morgen, als die Scheune heruntergebrannt und das Feuer nicht mehr so gefährlich war, dass es ständig bewacht werden musste, zog mein Großvater seinen Gürtel aus der Hose und verprügelte den armen Stanley, der auf den Balsam des Trostes gehofft hatte. Stumm und tränenlos verschwand der Junge in seinem Zimmer und kam den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr heraus. Am anderen Morgen machte er sich stumm auf den Weg zur Schule. Meine Mutter folgte ihm, hielt so viel Abstand, wie sein Stolz zu brauchen schien, und litt innerlich mit, wie er steif vor Schmerz vor ihr herging. Weder der Junge noch sein Vater sprachen je über den Vorfall, auch nicht, als die verkohlten Überreste der Scheune fortgeschafft wurden; das Verhältnis zwischen ihnen aber hatte sich verändert, für immer. Als hätte ihn die Bestrafung weit genug abgerückt, um seinen Blick zu klären, konnte Stanley jetzt sehen, dass sein Vater nicht unfehlbar war – »die Tasse hatte einen Sprung«, sagte meine Mutter – , und diese Fehlbarkeit machte ihn menschlicher und eigenartigerweise auch liebenswerter. Stanleys Noten wurden danach besser, und er verlor seine Angst vor dem Vater. »Wie weggeblasen war sie«, sagte meine Mutter. »Als hätte er sich nie gefürchtet. Und danach konnte er tun, was er wollte; wenn unser Vater was dagegen hatte, starrte ihn Stanley einfach nur stumm an. Es war eine neue Entschlossenheit an ihm, und man konnte förmlich zuschauen, wie er sich veränderte, wie ein anderer Mensch aus ihm wurde.«
Jahre später legte Sadie, die amerikanische Cousine meiner Mutter, nunmehr mit meinem Onkel Stanley verheiratet, innerhalb der Mauerreste, die von dem Steinfundament der abgebrannten Scheune geblieben waren, einen blühenden Rosengarten an. Die nach dem Feuer errichtete neue Scheune wurde irgendwann abgerissen, nachdem sie nicht mehr gebraucht wurde, weder als Lagerhalle noch als Stall für die Pferde, und sich auch nicht zu einer Unterkunft für die
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