Der Schmetterlingsbaum
Militärhochschule Literatur studieren, sagte ich. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sie voll und ganz in der in meinen Augen banalen Welt der Militärmanöver aufging. Aber man kann dort alles Mögliche machen, sagte sie. Auch Geisteswissenschaften studieren, wie an jeder anderen Uni. Sie könnte dort die Dichter studieren, während sie suchte und rettete und über den Frieden wachte.
Ich saß an meinem Schreibtisch, mit dem Rücken zu meinen Hausaufgaben. Ich war im Begriff, gefährliches Gelände zu betreten.
»Glaubst du wirklich, du wirst deinen Vater finden?« Es war eine brutale Frage, aber ich trug schon die letzten sechs Monate eine Menge Brutalität mit mir herum und musste das fragen.
Sie schwieg eine Weile, saß nur da mit verschlossener Miene und abgewandtem Blick. »Nein«, sagte sie schließlich. »Eine vermisste Person muss irgendwie gerettet werden wollen .« Ein starker Satz angesichts der Umstände; zweifellos ein Zitat von irgendwoher, aber für mich klang er wie meine eigene bornierte Vorstellung von Lyrik. »Er will nicht, dass wir ihn finden«, sagte sie verbittert. »Das weiß ich. Er will nicht mal, dass wir ihn suchen.« Sie war den Tränen nahe, doch die Wohltat des Weinens würde sie sich nicht erlauben, nie, das wusste ich. Stattdessen richtete sie sich auf, hob den Kopf und blickte durchs Fenster auf die graue städtische Straße hinaus. »Ich will ihn nie wiedersehen«, sagte sie.
Sie war meine Cousine, praktisch meine Schwester. Sie war der einzige Mensch, mit dem ich je ein Zimmer geteilt hatte. Ich wusste, wie sie schlief, wie sie ein Buch hielt, in welcher Reihenfolge sie sich anzog: die Socken, dann die Unterwäsche, ein T-Shirt, Jeans. Ich hatte ihre erste Periode miterlebt, ihren ersten BH . Und davor hatte ich miterlebt, wie ihr, nach mir, die Milchzähne ausfielen. Ich wusste, wie sie sich in einen Badeanzug hineinschlängelte. Ich war tausend Mal mit ihr im See gewesen und wusste, wie sie aussah, wenn sie zu lang im Wasser gewesen war, wenn ihre Lippen blau wurden und ihre Schultern zitterten. Ich kannte ihre Launen, ihre romantische und poetische Seite und noch etwas anderes an ihr, diese Kombination aus Stolz und Eigensinn, eine Mischung, die sich später meiner Meinung nach zu Ehrgeiz weiterentwickelte.
»Mom hasst ihn«, sagte sie und fügte nach einer Pause hinzu: »Ich auch.«
Ich stand auf und ging zur Tür, weil ich weder die Nerven noch das Herz hatte, dieses Gespräch fortzusetzen. Ich kannte sie sehr, sehr gut. Und ich wusste, dass sie log. Aber damals, als ich zu ihr sagte, ich hasste ihn ebenfalls, war ich immer noch aufrichtig überzeugt, dass ich es auch so meinte.
V or ungefähr einem Monat sah ich auf dem Weg zum Schutzgebiet zwei Farmer auf einem Feldweg neben ihrem Pick-up vor einer großen, halb verfallenen Scheune stehen, wie Phantome. Die Köpfe gesenkt, die Mützen in die Stirn gezogen, schienen sie in eine Angelegenheit von größter Bedeutung vertieft. Vielleicht ging es um eines ihrer Tiere oder um eine Heulieferung, und sie besiegelten eine Abmachung. Vielleicht diskutierten sie auch über die Scheune, besprachen ihren Abriss – ich sah das Gebäude auf einmal mit anderen Augen: als kolossales, einsturzgefährdetes Denkmal aus einer anderen Ära, uralt und zottelig wie das letzte Exemplar einer ausgestorbenen Spezies. In der Umgebung, die hier entstand – mit einer Kiesgrube auf der einen Straßenseite, einer wachsenden Trabantenstadt auf der anderen – , war sie so fehl am Platz wie ein römischer Kornspeicher, ein nach einer mittelalterlichen Zeichnung gestaltetes Bühnenbild oder ein mächtiges hölzernes Frachtschiff aus früherer Zeit, das unerklärlicherweise neben der Fahrbahn einer Landstraße aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert vor Anker liegt.
Mit Scheunen hatte unsere Familie immer wieder Probleme gehabt, schon lang vor der niedergebrannten, von der nur die steinernen Grundmauern geblieben sind, die jetzt einen verwilderten Rosengarten beherbergen. Nach Auskunft meines Onkels war diese Scheune – dass er sie angezündet hatte, gab er übrigens nie zu – lediglich der Ersatz für eine geräumigere und schönere Scheune, die im neunzehnten Jahrhundert infolge von Habgier, wie er sagte, zerstört worden war. Der erste kanadische Butler hatte, nachdem er von der amerikanischen Seite des Sees herübergekommen war, ziemlich früh, noch bevor er sein Blockhaus baute, einen ebenfalls in Blockbauweise konstruierten Stall
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