Der Schmetterlingsbaum
Arbeiter umbauen ließ. Tante Sadie war darüber sehr erfreut, denn, wie sie sagte, seien die Proportionen des Baus völlig falsch gewesen und die Scheune ein Schandfleck für das Anwesen. Meine Mutter aber erinnerte sich vor allem daran, wie souverän ihr Bruder in den Wochen nach dem Feuer die Leitern hinaufgeklettert war, als er und der Vater die neue Scheune gebaut hatten – ohne den Hauch einer Spannung zwischen ihnen, sagte sie.
War dies der Moment, in dem das Charisma meines Onkels entstand und zu wachsen anfing? Als Kind ein stiller, zur Molligkeit neigender Junge, entwickelte er sich, wie ihn meine Mutter beschrieb, zu einem jungen Mann, der ein blendend aussehender Herzensbrecher war. Jedes weibliche Wesen zwischen fünf und fünfzig erlag seinem Charme, und es gab Zeiten, in denen er an jedem Finger der Hand ein Mädchen hatte. Manchmal kamen auch Lehrer auf die Farm, und einmal, glaube ich, gab es wohl eine Lehrerin, mit der er eine Affäre hatte, aber was genau wirklich war, erfuhr meine Mutter nie, denn sie war von den Mädchen, die ihren Lieblingsbruder umschwärmten, meistens ein bisschen abgeschreckt. Dann kam der eine Sommer, in dem die schöne, kühle Sadie vom anderen Seeufer herübergeschickt wurde, weil ihre Eltern sie dem Einfluss irgendeines unliebsamen jungen Mannes, den sie sich in den Kopf gesetzt hatte, zu entziehen suchten.
Anfangs war sie mürrisch und verdrossen, erinnerte sich meine Mutter, verließ kaum das Zimmer, in dem später Mandy und ich in unseren gemeinsamen Sommern schliefen und das Sadie mit dem Mädchen teilte, das später meine Mutter wurde. Sollte sie von Stanley oder seinem Bruder Harold oder einem ihrer Freunde irgendwie Notiz genommen haben, ließ sie sich nichts davon anmerken. Und vielleicht war es überhaupt diese Gleichgültigkeit, die Stanley so stürmisch auf sie reagieren ließ. Sie war noch keine Woche auf der Farm, als er seine samstäglichen Besuche im Tanzpavillon einstellte, und nach zwei Wochen brachten ihn keine zehn Pferde mehr von der Farm fort, auch nicht das Angebot uneingeschränkter Nutzung des Autos. Seine frühere Schweigsamkeit kehrte zurück, als hätte Sadies Anwesenheit im Haus alles wiederaufleben lassen, das ihn als Kind so unsicher und schüchtern gemacht hatte. Von Zeit zu Zeit aber brach er aus diesem Zustand aus und verfiel in »absolute Idiotie«, wie meine Mutter sagte, riss Witze und markierte den großen Max, bis der eine oder andere Elternteil die Geduld verlor. Bei den Mahlzeiten glotzte er entweder Sadie an oder starrte mit finsterer, gequälter Miene auf seinen Teller.
Meine Mutter gab zu, dass sie damals auf Sadie eifersüchtig war. Sie war neidisch auf ihre amerikanischen, nicht selbstgenähten, sondern gekauften Kleider, auf ihre makellose Haut, das perfekte Haar, die Filmzeitschriften, die ihr gehörten und in denen man nur blättern durfte, wenn sie es erlaubte, und sie war neidisch wegen der Wirkung, die Sadie auf beide Brüder ausübte, denn auch Harold war nicht gegen Sadies Reize gefeit, wenngleich sie ihn nicht so aus der Fassung brachten wie Stanley. Es war Harold, der die amerikanische Cousine schließlich mit Erfolg aus ihrer Verschlossenheit und schlechten Laune lockte, meist indem er sie gutmütig neckte, freche Liedchen über sie sang oder sie Sadie Hawkins nannte, nach der alten Jungfer aus dem L’il Abner -Comic, die Jagd auf Junggesellen macht. »Na, Sadie Hawkins«, sagte er etwa beim Frühstück, »du schaust aus, als ginge es mir heute an den Kragen, ich mach mich wohl lieber gleich aus dem Staub.«
Das hatte eine gewisse Wirkung auf die Cousine, zumindest brachte es sie dazu, ihm immerhin einen Blick zuzuwerfen, wenn auch einen vernichtenden. Erst als Harold durch das offene Küchenfenster, hinter dem sie stumm das Geschirr vom Abendessen spülte – »Meine Eltern erwarteten von ihr, dass sie sich an der Hausarbeit beteiligte«, sagte meine Mutter – , einen ganzen Eimer kaltes Wasser klatschen ließ, der dazu gedacht war, sie aufzuwecken, reagierte sie wirklich – schmiss das nasse Geschirrtuch hin und rannte tobend aus dem Haus und hinter ihm her, wie er es am Morgen vorausgesagt hatte. Stan, der mit den letzten paar Kühen, die sie noch hatten, von der Weide kam, bekam das Ende der Verfolgungsjagd mit, nämlich wie Sadie und sein Bruder sich auf dem Rasen wälzten, sie mit zerzaustem blondem Haar und braungebrannten Beinen, die nach ihm traten, und Harold lachend über die kleinen nassen
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