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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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Uniform heiratet eine Frau, die ihn so lange nicht beachtete, bis er verschwand.
    Was uns anzieht und was uns abstößt, hält sich, glaube ich, in Bezug auf die Macht über unseren Körper und unsere Seele die Waage und scheint in gleichem Maß darüber zu entscheiden, was aus uns wird; jedenfalls ist das mein Eindruck. Ein Bauernjunge, der Soldat wird, veranlasst eine junge Frau, ihre Aufmerksamkeit vom einen auf den anderen Bruder umzulenken. Er wendet sich von ihr ab, und sie wendet sich ihm zu, und die ganze Sommerwelt, wie ich sie dann kennenlernte, hat ihren Keim in diesen Stimmungs- und Ortswechseln. Ein junger Mexikaner im fernen Ausland gerät angesichts des Zusammenstoßes von Gewalt und Erwachsenenangst in Panik, und er und die Leidenschaft verschwinden aus meinem Leben für immer. Ein Schmetterling, der von seinem Kurs abgebracht wird, weil sich der Wind plötzlich dreht, erreicht nie mehr sein ursprüngliches Ziel. Er stirbt auf dem Weg, ohne sich gepaart zu haben, und die vielfältigen Möglichkeiten, die in seinen Zellen und seinem Wandertrieb liegen, kommen einfach nie zustande.

N eulich nachts führte das fliegende Rettungsteam der Küstenwache über dem See, etwa eine Meile vom Ufer entfernt, eine Übung durch. Große kadmiumgelbe Scheiben, die dazu dienen, weite Flächen offenen Wassers zu beleuchten, schwebten langsam auf den See hinab und ließen parallele goldene Pfade auf der Oberfläche des Wassers erscheinen, als spiegelten sich mehrere Herbstmonde darin. Wäre da nicht die Langsamkeit ihres Abwärtsgleitens, man könnte diese Ovale für festlich halten: eine Variante von Feuerwerk. Feu d’artifice , wie die Franzosen sagen, Kunstfeuer.
    Feuer hat in unserer Familiengeschichte immer wieder eine Rolle gespielt – da war diese Scheune, die mein Onkel angezündet hat – , aber es war auch ein entscheidender Faktor bei der Besiedlung dieser flachen, prärieähnlichen Landschaft, sogar hier unten ganz im Süden der Provinz. Die frühesten Siedler, sagte mein Onkel, darunter auch unsere eigenen Urure, seien von der schieren Zahl der Laubbäume und ihrer gewaltigen Größe derart überwältigt gewesen, dass sie, statt sie eigenhändig zu fällen oder Holzfäller einzustellen, riesige Waldflächen kurzerhand in Brand setzten. Anscheinend war der Widerschein am nördlichen Himmel noch in der damals kleinen Siedlung Chicago am anderen Seeufer zu sehen, wo die Leute wussten, dass es in Essex County brannte. Meine Mutter spricht oft von dem rötlichen Leuchten, das sie in den sechziger Jahren am Nachthimmel sah: Das war das brennende Detroit der Bürgerunruhen. Und Mandy, die arme Mandy, kam nie so ganz über das »freundliche Feuer« hinweg, das von einem amerikanischen Kampfjet auf einen Zug frisch in Afghanistan eingetroffener kanadischer Soldaten niederging und das sechs ihrer Kollegen tötete.
    Natürlich waren die nächtlichen Übungen, die ich neulich beobachtete, nicht so bedeutungsgeladen wie die eben erwähnten, aber traurig waren sie und würdevoll, diese Leuchträder über dem See. Ihr Auftauchen war wie die Generalprobe zu einer Tragödie, an deren Rand dennoch ein winziger Schimmer der Hoffnung aufschien. Natürlich haben sie nichts mit Schmetterlingswanderungen zu tun, trotzdem musste ich an die schwächeren Monarchfalter denken, die von der anstrengenden Seeüberquerung so erschöpft sind, dass sie vom Himmel herab und in die Wellen gezogen werden. Und auch an Mandy musste ich denken, an Mandy und ihren Vater.
    Nicht lange nachdem alles auseinandergebrochen war, entschloss sich Mandy, Such- und Rettungsexpertin zu werden, und schrieb sich noch an der Highschool für mehrere Abendkurse an einem College in der Nähe ein. Die Kurse hatten Bezeichnungen wie »Umgang mit der vermissten Person« oder »Verhalten der vermissten Person«, und so jung ich war, ahnte ich doch, welcher Sinn hinter alledem stand. Ich kämpfte zu der Zeit mit meinem eigenen Verlust und war schweigsam und verschlossen geworden, denn um mit meiner Trauer anders umzugehen, dazu besaß ich weder die Reife noch das Selbstvertrauen. Wieder in der Stadt, kehrten meine Mutter und ich in unseren Alltag zurück, und ab und zu kamen Mandy und ihre Mutter und Brüder zu Besuch. Die Jungs fläzten die meiste Zeit bis zum Schlafengehen mürrisch in der Nähe eines Fernsehers, auf dem irgendein Spiel lief, während Mandy und ich uns ins Zimmer zurückzogen, mein städtisches Schlafzimmer, in dem wir zusammen

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