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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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von den Steinen rund geschliffen zu werden.

A n manchen Nachmittagen im Spätherbst, so gegen vier, kommt es vor, dass aus den grauen laublosen Bäumen vor den Fenstern schwarze Silhouetten vor einem Hintergrund aus See und Himmel werden und dass sich am Horizont eine seltsame violette Färbung bildet, wie eine Prellung; das ist dann wohl eine Schneeböe, wie man diese meteorologische Besonderheit über den Großen Seen nennt, obwohl es tagsüber nur selten einen Hinweis auf einen dieser berühmten, tödlichen Novemberschneestürme gibt. Jedes Mal, wenn ich aus diesem Fenster schaue, überrascht mich die Jahreszeit. Ich habe jetzt zwei Jahre in dieser Gegend überwintert, die ich als Kind für einen Ort hielt, an dem nur der Sommer wohnt, und das langsame Einsetzen des Winters, die wachsende Dunkelheit kann ich noch immer nicht so ganz akzeptieren.
    Kürzlich las ich ein Tagebuch, das ich mit neun Jahren in einem meiner Stadtwinter führte: Es ist eine Aneinanderreihung von Klavierstunden und Ballettaufführungen, Eislaufen im Stadtpark mit Kindern, an deren Gesichter ich nicht die leiseste Erinnerung habe, und Klassenarbeiten bei Lehrern, deren Namen ich fast nicht wiedererkannte. Wie kann mir so viel Leben so wenig bedeutet haben? Meine einzigen lebhaften Erinnerungen klammern sich an die Sommerlandschaft dieser Farm und die Vergangenheit, aus der sie hervorgegangen ist.
    Eine sehr deutliche Erinnerung an eine Schulstunde habe ich noch, aber auch sie hängt mit meinem Sommerleben zusammen. In Gesellschaftskunde nahmen wir die Azteken und dann die spanischen Invasionen durch, und wir lasen dazu ein illustriertes Buch mit dem Titel Die Entdecker . Mit den heroischen Entdeckern, die in ihren bunten Strumpfhosen, gestreiften Pluderhosen und silbernen Rüstungen an Zirkusartisten erinnerten, nahm es oft ein trauriges Ende, weil ihnen »die Eingeborenen« aus offensichtlich starrsinnigem Undank gegenüber dem Wort Gottes und trotz der von den Entdeckern unter großen Mühen an ihre Küsten gebrachten europäischen Flaggen den Garaus machten. In dem Buch waren auch Landkarten, darunter eine von Mexiko, das sich wie eine Trichterwolke am unteren Ende von Britisch-Nordamerika verzwirbelte. Ich wusste, dass Teo dort lebte, wenn nicht Sommer war, aber mit den undankbaren Eingeborenen hätte ich ihn niemals in Verbindung gebracht.

    Im Sommer waren wir den ganzen Tag zwischen Haus und See unterwegs, immer rennend, oft in Begleitung einer Clique von Freunden meiner Cousins, und die ununterbrochen knallende Fliegengittertür machte die Mütter verrückt. Jeden Abend vor dem Essen bekamen wir Fliegenklatschen in die Hand gedrückt – ich eine rote, Mandy eine blaue, Don eine schmutzig weiße, Shane eine gelbe – , denn, so das Argument der Erwachsenen, schuld an der Fliegenplage seien wir, die sie hereingelassen hätten, und deshalb sei es auch unsere Sache, sie wieder zu beseitigen. All die Geräusche, die mir vom Ende eines Tages in Erinnerung sind: das Türenknallen, das Patschen der Fliegenklatsche, das Rollen der Brandung an der Küste, die knirschenden Schritte der mexikanischen Arbeiter auf dem Kiesweg zu ihrer Baracke, Erwachsenenstimmen, das Klimpern von Eis in einem Glas.
    Eines Sommernachmittags stürmten Mandy und ich – damals ungefähr zehn und zwölf – lärmend in das stille Haus und suchten unsere Badeanzüge. Zu diesem Zeitpunkt waren die Mütter zu Besuch bei der Familie von Tante Sadie auf der Farm in Ohio, die ich, nachdem ich selbst ein, zwei Mal dort gewesen war, in Gedanken immer als Zwilling der unseren bezeichnete, und Mandys Brüder und wir beide waren in der eigentlich nur theoretischen Obhut meines Onkels zurückgeblieben. Wir nahmen ihn kaum wahr, als wir durchs Wohnzimmer rannten, so still saß er an dem polierten Walnussschreibtisch, der seinem Vater und davor seinem Großvater gehört hatte. Aber als wir auf dem Rückweg wieder an ihm vorbeiflitzen wollten, fing er uns ab; in der Hand hielt er ein altes vergilbtes Schulheft.
    »Bleibt sofort stehen«, befahl er uns, schreiend, obwohl wir keine zwei Schritte von ihm entfernt waren. »Stopp«, schrie er, »schaut!«, und hielt den Block hoch. »Hört zu!« Einwände waren zwecklos, das war uns klar, leider, denn es war ein heißer Tag, wir hatten unsere Badeanzüge gefunden und angezogen und sehnten uns nach dem See. Es wird nicht das erste Mal gewesen sein, dass ich ihn so erlebte, aber ich erinnerte mich an keine früheren Begebenheiten

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