Der Schmetterlingsbaum
entgegengingen. Meine Mutter hatte gerade ihre Fünfziger hinter sich, und meine Tante, ihre Cousine zweiten Grades, wie Sie sich erinnern, war Anfang sechzig, aber es war schlicht unmöglich, sich irgendeine andere Zukunft für sie vorzustellen. Tag für Tag besetzten sie dieses Haus wie zwei ältere Damen aus einer längst vergangenen Ära, dünn, sittsam, adrett gekleidet in Tweed und praktische Schuhe, benutzten das gute Familienporzellan und Silberbesteck bei jeder Mahlzeit und waren sehr damit beschäftigt, das Hab und Gut aus der Vergangenheit zu putzen und zu polieren, dieselben Gegenstände, die ich jetzt um mich habe, wie Sie sehen.
Besuch hatten sie wenig. Die Leute in der Stadt wussten nichts Rechtes mit den beiden anzufangen, und die Söhne von Tante Sadie, die inzwischen im Berufsleben standen, hatte es an die kanadischen Küsten verschlagen; sie kamen selten. Anstelle von Besuchern hatten die Frauen, die wir »die Mütter« nannten, ihre kleinen Einsätze. Meine Mutter arbeitete zwei Tage in der Woche in einem Secondhandladen, und meine Tante fuhr je nach Bedarf ältere Leute zu Arztterminen, bis sie es nicht mehr konnte. Aber dabei entstanden keine wirklichen Beziehungen. Mein anderer Onkel und seine Frau luden sie ab und zu sonntags zum Essen ein, bis die ser Onkel zum letzten Mal von seinem Auktionatorpult herabstieg, seine Zinnfiguren- und Holzindianersammlung für eine ansehnliche Summe verkaufte und mit seiner Frau nach Florida zog.
Mandy, die an der Militärhochschule studierte und später in Petawawa stationiert und also nicht weit weg war, kam gelegentlich, sehr selten, nachmittags vorbei. Über Nacht blieb sie nie. Zu mir sagte sie einmal, sie hasste es, heimzufahren. Ich fragte nicht, warum, wir kannten beide die Antwort, und es war kein Thema, über das wir so ohne Weiteres reden konnten, wie etwa ein paar Jahre später über den Mann, den sie kennengelernt hatte und unter dem sie so litt. In der ersten Zeit also war ich diejenige, der die Pflichtbesuche zufielen; ich kam für drei, vier Wochenenden im Jahr – manchmal mit einem Freund im Schlepptau – , und in der Ferienzeit erschien ich pflichtbewusst allein. Dann saßen wir drei genau hier an diesem schönen alten Esstisch und redeten über nichts, außer über meine Arbeit als Entomologin, die meine Mutter nie vollständig durchschaute, die sie aber interessierte. Mein Onkel wurde sehr selten erwähnt, und wenn, dann begann meine Tante, die ihre Unerbittlichkeit mittlerweile völlig aufgegeben hatte, mit irgendeiner Feststellung, die alsbald im Sand verlief, als ließe sich gar nichts mehr mit Sicherheit sagen: »Stanley meinte immer, es gibt mehr Insekten bei der … ach, ich weiß nicht«, oder: »Als Stanley und ich frisch verheiratet waren, gingen wir manchmal, also nicht oft, nein, nicht mal gelegentlich … vielleicht war es nur ein einziges Mal.« Dann blickte sie durchs Fenster auf den See hinaus, oder sie stand auf und begann Geschirr abzuräumen. Manchmal war mein Onkel Gegenstand einer Frage, die nie vollständig gestellt, geschweige denn, beantwortet wurde. »Ich frage mich, warum Stanley diese Zäune so weit weg von … ?« Ich weigerte mich in diesen Jahren, seinen Namen in den Mund zu nehmen, denn ich war nach wie vor überzeugt, dass ich ihn hasste. Meine Mutter hingegen hatte auf ihrem Nachttisch ein gerahmtes Bild von ihm als sehr jungem Mann stehen, neben einem Foto von meinem Vater; ein Umstand, der mir zwar auffiel, über den ich aber kein Wort verlor.
Die anderen Bilder waren alle verräumt worden, auch die Luftaufnahmen von der Farm in ihrer Blütezeit, als noch jeden Sommer die Mexikaner kamen. Ich war darüber nicht unglücklich: Ich erinnerte mich nicht gern, obwohl ich damals noch so jung war. Heute glaube ich, dass kaum jemand von sich sagen kann, dass er gern zurückdenkt. Erinnern geht immer Hand in Hand mit Vergänglichkeit und Verlust, oft mit Leid. Allein die Vorstellung, dass die Alten ihre Tage in der Behaglichkeit froher Erinnerungsreisen in die Vergangenheit zubrächten, ist absurd, auch wenn meine Mutter, wenn ich sie besuche, gern dieses Theater aufführt. Vielleicht war meine Tante, die vor ihrem Tod von ihrer Erinnerung amtlich geschieden wurde, letztlich doch besser dran als meine Mutter, die durchs Fenster auf einen Parkplatz starrt und zu enträtseln versucht, was alles verlorengegangen ist.
Aber an einen Ort zurückzukehren, den man kennt wie die eigene Westentasche, an einen See, der
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