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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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so groß ist, dass sein Ufer und folglich auch der Ort, an dem man steht, auf einer Weltkarte zu sehen ist, was bei einer beliebigen städtischen Straße natürlich ganz ausgeschlossen wäre – das hatte, als meine Mutter und meine Tante noch hier lebten, trotz all meiner Vorbehalte immer auch etwas Tröstliches. Beruhigend waren auch die Rituale, an denen die beiden noch immer festhielten, zum Beispiel besuchten sie alljährlich, in Vorwegnahme des Gedenktags für die im Krieg Gefallenen, sämtliche Butler-Gräber auf dem städtischen Friedhof – schließlich waren sie beide geborene Butlers, wie ich ja wohl auch irgendwie.
    Ja, dieser Friedhof. Dort lagen sie alle, die Vorfahren und Helden aus den Legenden meines Onkels, die alten Farmer und die alten Leuchtturmwärter, all die Urure und Verwandten zweiten und dritten Grades, die mir daher diffuser erschienen, aber, wenn ich an die Geschichten zurückdachte, nicht weniger interessant. Manche zogen an den Klondike, andere in den Krieg. Manche starben im Kindbett – allerdings überraschend wenige, weshalb meine Mutter gern sagte, die Frauen in dieser Familie seien stark und gesund, eine Behauptung, die ein paar Jahre später, auf der Beerdigung meiner Tante, im Rückblick wie eine Ironie wirkte. Manche starben durch Unfälle in der Landwirtschaft oder bei der Forstarbeit oder infolge einer Kollision mit einem Pferd. Die zahlreichen Butler-Kinder, die nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, in den ersten Jahren ihres neuen Lebens in Kanada starben, hatten kleine runde Grabsteine. Auf all diese Gräber wurden Blumen gepflanzt und gestellt. Mein Onkel war natürlich nicht unter ihnen, für ihn brachten wir keine Blumen. Und einmal, nur ein einziges Mal in dieser Zeit brachte meine Mutter diesen traurigen Umstand zur Sprache, allerdings ohne seinen Namen zu nennen. »Er kann doch nicht woanders begraben sein«, sagte sie. »Alle sind immer nach Hause zurückgebracht worden.«
    »Du meinst, er lebt noch irgendwo?« Für mich war er seit Jahren tot. Vollständig verschwunden aus meinem Leben.
    »Ja, natürlich. Wenn er gestorben wäre, hätte man ihn doch hierhergebracht.«
    »Und wie genau sollte das gehen? Es weiß doch niemand, wo er ist. Und«, fügte ich hinzu, »niemand will es wissen.«
    Ich konnte sehen, dass meine Mutter den Tränen nahe war, aber ich war nicht gewillt, einzulenken. »Er ist mein Bruder«, sagte sie. »Ich will es wissen.«
    Und danach schwieg sie.
    »Kannst du dir auch nur annähernd vorstellen, was es bedeuten würde, ihn zurückzuholen? Was denkst du bloß?«
    »Er ist mein Fleisch und … « Sie verstummte wieder, diesmal weil sie spürte, dass meine Tante nahte.
    Ich ging zornig davon und ließ sie beide stehen. So wie ich es damals sah, hatte mein Onkel sein Daseinsrecht innerhalb des Butler-Stammbaums eingebüßt. Er hatte auf den Luxus verzichtet, einen mühelos identifizierbaren Platz auf einer Weltkarte für sich beanspruchen zu können, und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich sogar die Erinnerung an ihn auslöschen wollen. Ob tot oder lebendig, für ihn gäbe es niemals Blumen, jedenfalls nicht, solange ich etwas mitzureden hatte. Auch keine Legenden; es war mir zuwider, wie die Vergangenheit alle in Gewahrsam nimmt, die nicht aufhören sich zu erinnern, und ich wollte nichts damit zu tun haben. Aber bitte, hier sitze ich, viele Jahre später, und erzähle Ihnen in allen Einzelheiten, wie es gewesen ist, ich verfestige Legenden. Tag für Tag lasse ich mich in Gewahrsam nehmen, mein Leben ist ein Anachronismus, Seite an Seite mit diesem Stuhl, jenem Tisch, dem polierten Walnussholz des imposanten Schreibtisches, den der Alte Urur hinterlassen hat.
    Meine Mutter spricht manchmal von diesem Esstisch, an dem wir jetzt sitzen; wie überlegen er den funktionellen Tischen sei, an denen sie im Golden Field essen muss. »Er kam über das Wasser aus Ohio herüber«, erzählt sie, »zusammen mit all den anderen Möbeln, und wurde an unserem Kai ausgeladen. Interessanterweise musste das gute Geschirr zweimal bestellt werden, denn das Schiff mit dem ursprünglichen Geschirr an Bord versenkte ein Novembersturm.«
    Ich erinnere mich an die Porzellanscherben, die wir als Kinder so oft am Ufer fanden. In den letzten Jahren sind sie seltener geworden. Ich denke an das viele Geschirr, die vielen Gläser, die im vergangenen Jahrhundert auf den Grund des Sees gesunken sein müssen, um dann von den Winterstürmen zerbrochen, verwirbelt und

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