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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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dieser Art, ich hatte lediglich die – felsenfeste – Überzeugung zurückbehalten, dass es nicht ratsam war, ihn zu provozieren, indem man mit ihm diskutierte.
    »Mandy«, sagte er, »du magst doch Gedichte.« Er wedelte mit dem Heft, leicht bedrohlich, als sei er im Begriff, es über seine linke Schulter zu werfen. »Was ich hier habe, sind die Werke deines verdammten Urgroßvaters«, sagte er angriffslustig, »und ich werde dir jetzt seine gottverdammten Gedichte vorlesen.«
    Ich bezweifelte die Existenz solcher Gedichte, empfand aber eine instinktive Furcht vor dieser Seite meines Onkels. Ich wollte fort und wagte nicht, mich zu rühren. Mandy, ein Handtuch über einem Arm, stand erfüllt von Vorahnung und verkrampft vor Ungeduld wegen der Störung neben mir, fast bebend, wie ein Vogel kurz vor dem Auffliegen.
    Er schob seinen Stuhl zurück und begann langsam, in bedächtigem Ton vorzulesen. »Melker und Melken«, fing er an und legte eine bedeutungsschwere Pause ein.
    Melker sollen freundlich sein,
    Sauber und rein.
    Melker sollen zügig melken,
    Stetig und rhythmisch.
    Er blickte auf, um sich zu vergewissern, dass wir zuhörten. Dann fuhr er fort:
    Das Euter ist voller Venen,
    Arterien, Fett und Fleisch.
    Die Fütterung der Kuh
    Teilt sich in zwei Phasen:
    Winter. Sommer.
    Wieder sah er uns an, misstrauisch, über den Rand seiner Lesebrille hinweg. Bei dem Wort Euter fühlte ich ein Kichern in mir aufsteigen und ahnte, dass der drohende Lachanfall auf Mandy überspringen würde. Ich verbot mir, sie anzusehen, und starrte stattdessen auf meinen Onkel, und nun verspürte ich, aus mir kaum verständlichen Gründen, einen wachsenden Groll. Und doch, und doch – zog sich mitten durch den Groll und die Furcht vor seiner bestürzenden Wut auf uns ein dünner, straff gespannter Faden Liebe, der an ihm festgemacht war, an ihm und dem, was seine Wut auszudrücken versuchte, was immer das sein mochte. Er hatte Tränen in den Augen. Ich hoffte – und Mandy ebenfalls, das ahnte ich – , dass er endlich dieses Heft aus der Hand legte und sich wieder uns zuwandte, aber gleichzeitig wussten wir beide, obwohl wir noch Kinder waren, dass wir vergeblich hofften. Er war noch nicht so weit.
    Er fing wieder an, gedämpfter jetzt und weniger deklamatorisch, als hätte er sein Publikum vergessen; aber wir wussten es besser. »›Ställe für Milchkühe müssen hell und gut durchlüftet sein und brauchen einen festen Boden. Der Stallraum soll so bemessen sein, dass die Tiere sich nicht drängen, bequem liegen können und dass hinter ihnen genügend Raum für die notwendigen Stallarbeiten bleibt. Der Gesellschaft halber sollen die Kühe einander in zwei Reihen gegenüberstehen.‹« Er blickte zur Decke hinauf. »Jesus«, sagte er, »der Gesellschaft halber!« Er senkte den Blick wieder auf das Heft. »›Es braucht genügend Raum für die Lagerung von Stroh und Heu und Bottiche für die Zubereitung von Futter, einen Silo und Rübenkeller in leicht erreichbarer Nähe. Das Knebeln vermittelst eines Stricks ist, sollte es beim Melken unverzichtbar sein, so schonend wie möglich vorzunehmen, und die Krippen sind täglich zu säubern. Fleißiges Einstreuen und Ausmisten tragen sehr viel zur Reinhaltung des Melkviehs bei.‹« Sowohl die Glasscheibe in der Tür zur Veranda als auch der Spiegel an der Wand gegenüber warfen sein Bild zurück, und es sah aus, als säßen drei Onkel im Raum. Warum habe ich das so deutlich in Erinnerung, diese Geisterbilder von ihm?
    »Jesus!«, sagte er noch einmal. »Wer spricht denn heute noch von ›Krippen‹?«
    »Das Jesuskind«, schlug Mandy vor.
    Er ging nicht auf sie ein. »Oder das: ›Knebeln vermittelst eines Stricks‹!«, fuhr er fort. »Wer spricht überhaupt von Ställen?« Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, was Mandy und mich nervös zusammenzucken ließ. »Eine Kuh!«, schrie er. »Eine Kuh konnte dreihundert Pfund Butter erzeugen!« Sein Ton besänftigte sich wieder ein wenig. »›Guernsey, Jersey‹«, rezitierte er feierlich; dann fragte er: »Wie viel Pfund, Amanda?«
    »Dreihundert«, antwortete sie unsicher. So leise, dass sie kaum zu verstehen war.
    Mein Onkel schob seinen Stuhl noch ein Stück weiter zurück. Seine Hände lagen auf den Armlehnen, als wollte er jeden Moment aufspringen. »Laut und deutlich, wenn ich bitten darf!«, befahl er.
    »Dreihundert.« Mandy hatte ein unkontrollierbares Zittern in der Stimme.
    »Na gut«, seufzte er und ließ sich in den Sessel

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