Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
Vom Netzwerk:
das, was da auf uns zukam, sei nicht zutiefst einschneidend, lebensverändernd, auf jeden Fall unvergleichlich wesentlicher gewesen als ein im Spiel geworfener Ball. Der Hof war so riesig und bedeutsam wie ein Schlachtfeld – danach sah er nie wieder so groß aus – und der See erstaunlicherweise weniger wichtig als das feste Land, bis wir uns schließlich, wenn es fast dunkel war, zu einem letzten Bad ins Wasser stürzten. Danach folgten Flanell auf kühler Haut und ein so tiefer Schlaf, dass wir nicht mitbekamen, ob in den zahlreichen Zimmern dieses Hauses Erwachsene anwesend waren oder nicht.
    Am Sonntag vor einer Woche kam ich zufällig an dem Sekretär vorbei, an dem mein Onkel damals gesessen hatte, als er Mandy und mich abfing. Es war ein klarer Tag, die tief stehende Wintersonne fiel flach durch die seeseitigen Fenster und beleuchtete jeden Gegenstand im Raum in einem so schrägem Winkel, dass sonst unsichtbare Details sich einem förmlich aufdrängten; Staub zum Beispiel, und die Stellen, an denen ich mit dem Ärmel unwissentlich Staub abgewischt hatte. Und dort, auf der hölzernen Schreibtischplatte, entdeckte ich jetzt auf einmal lauter Buchstaben, Hunderte Wörter, die sich ins Holz gegraben hatten – der Niederschlag von Sätzen, die offenbar auf dünne Einzelblätter geschrieben worden waren. Ich fand die Lupe, die meine Tante gelegentlich benutzt hatte, um nach dem Zeichen des Herstellers auf einem bestimmten Stück Pressglas zu suchen und, in späteren Jahren, Kleingedrucktes zu entziffern, und begann systematisch das polierte Holz der Platte abzusuchen, weil ich auf Bruchstücke alter Familiengeschichte hoffte, bis mir klar wurde, dass nur ein Kugelschreiber genügend Druck ausübt, um solche Spuren zu hinterlassen. Die Sätze überlagern und durchkreuzen einander in so vielen Schichten, dass auf keinen Fall einzelne Wörter zu entziffern sind – bis auf zwei Fragmente, die eindeutig in der ungelenken, geneigten Handschrift meines Onkels geschrieben wurden. »Was ich sagen will … «, beginnt ein Satzstumpf, und ein zweiter lautet: »weiter fort als alles«, gefolgt von einem Gewirr sich überschneidender Schlingen und Schleifen in einer mir unbekannten Schrift, dann kommt noch einmal seine Schrift mit einem einzelnen Wort: »Winter«. Wie typisch für ihn, dachte ich, sicher ungerechterweise, wie ähnlich sieht es meinem Sommeronkel, dass er nur eine rudimentäre Spur aus einer kalten Jahreszeit zurücklässt. Er war weiter fort als alles . Er war jenseits meines Begreifens.

A ls mein zehnter oder elfter Sommer anbrach, war zwischen Teo und mir ein unausgesprochenes, zeitweiliges Bündnis entstanden, und wir machten uns manchmal davon, um für uns zu sein. Im Nachhinein kann ich sehen, dass ein nicht erklärtes, aber wortlos verstandenes Anderssein an uns war, sogar inmitten einer Bande von Kindern. Wir waren gleich alt, was natürlich eine gewisse Verbindung zwischen uns schuf. Aber das war nicht das Einzige. Im Grunde waren wir Zugvögel, kamen jeden Sommer von anderswo her und reisten am Ende der Saison wieder dorthin ab, und unsere jeweilige Wanderung unterschied sich nur in Richtung und Entfernung und darin, dass ich, obwohl fern von »zu Hause«, noch immer in meinem natürlichen Habitat war, wenn ich das so sagen darf. Teo hingegen hatte es in wirklich unbekanntes Gelände verschlagen, für begrenzte Zeit an einen künstlichen Ort, wo er in nicht allzu ferner Zukunft mit den Erwachsenen auf dem Feld und in den Plantagen würde arbeiten müssen, statt frei zu sein und mit mir zu spielen. Aber obwohl er so unübersehbar ortsfremd war, schien er mir auf der Sommerfarm so fest verwurzelt, dass ich ihn mir an keinem anderen Ort denken konnte. Nie kam er mit, wenn meine Mutter mit uns in die Stadt fuhr, um uns Eis oder Limo zu spendieren, oder wenn Tante Sadie die Auktionen meines anderen Onkels besuchte. Onkel Stanley war der Einzige, der ihn zum Mitkommen aufforderte, wenn er Ausflüge mit uns unternahm, aber die waren selten, denn im Sommer war er vom Betrieb stark in Anspruch genommen, und dass er einkaufen ging, kam so gut wie nie vor, in keiner Jahreszeit.
    Weil Teos Englisch noch nicht fließend war (und weil niemand je auf die Idee gekommen war, ich könnte Spanisch lernen), gehörten zu unseren Spielen meist ausgefeilte Gesten, und mit der Zeit liebte ich sowohl das Schweigen als auch die Signale, die wir austauschten. Ich war noch ein Kind und selbst ein bisschen eigenbrötlerisch,

Weitere Kostenlose Bücher