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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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gegangen war und warum – falls es denn jemand wusste. Meine Tante rief meine Mutter an, und dann fuhren wir noch einmal für ein bedrückendes Wochenende auf die Farm hinaus, die Mütter redeten leise miteinander, knapp außer Hörweite, und verstummten, wenn wir Kinder in der Nähe waren. Beklommene Anrufe wurden getätigt. Manchmal beunruhigte uns meine sonst so souveräne Tante mit einem äußerst untypischen Weinen, das, schien mir, eher von Wut als von Trauer herkam.
    Es war immer eine verstörende Zeit, eine Übergangsphase. Die Vögel aus dem Schutzgebiet versammelten sich zum Aufbruch in ihr Wintergebiet; über dem See erschien ein Schwarm nach dem anderen und zog in Formation Richtung Süden. Die letzte noch einzubringende Ernte war der ein bisschen lächerliche, aber faszinierende Kürbis. Ich war schon wieder in mein Leben aus Schule und Nachmittagsunterricht zurückgekehrt. Teo war fort. Seine Mutter und die anderen Mexikaner waren fort. Und dann war auch mein Onkel fort; der allerdings veranstaltete stets, bis auf das letzte Mal, eine dramatische Wiederkunft, nach der meine Mutter und ich in die Stadt zurückkehrten.
    Einmal, als wir alle schon Teenager waren (ich muss vierzehn gewesen sein), brach mein Onkel mit seinem Volvo zu unser aller Verblüffung mit voller Geschwindigkeit in die stille Wärme und das schräge Licht des Herbstnachmittags ein. Er raste geradewegs in die weiß gestrichene Holzgarage und auf der anderen Seite wieder hinaus. Die hübsche Konstruktion aus Brettern und Leisten mit ihren antiken Fenstern und Blumenkästen voller Chrysanthemen zersplitterte krachend, flog durch die Luft, Teile davon landeten auf dem Dach der Veranda, der Rest verteilte sich im Innenhof. Und dann stand der aufgerissene Wagen qualmend unten am See, und mein Onkel saß seelenruhig hinter dem Steuer. Zu unserer Verwunderung, Begeisterung und Erleichterung trat er die Seitentür auf, kämpfte sich ins Freie und ging hinunter zum Strand. Dort setzte er sich vorsichtig auf die Felsen, zog sein Sakko aus, faltete es zu einem Kissen und schob es sich im Niederlegen unter den Kopf. Dann schlief er ein. Eine grandiose Rückkehr, fand ich, und mein erster Impuls war, zu ihm hinzulaufen, um mich einerseits seiner anzunehmen und ihm andererseits zu gratulieren.
    Aber meine Tante fegte an mir vorbei und war als Erste bei ihm, so dass ich mich lieber zurückhielt. Aus der Ferne sah ich zu, wie sie ihn an den Haaren packte und in die Höhe riss, bis er saß, dazu benutzte sie Wörter, von denen ich nie gedacht hatte, dass ein Erwachsener sie kennt, und schüttelte ihn an den Schultern, so dass sein Kopf ruckartig vor und zurück flog. Er aber reagierte überhaupt nicht; er war so vollkommen unempfänglich für die Körperlichkeit der Auseinandersetzung, dass er mir wie ein lebloses Kleiderbündel vorkam, kein Mensch, sondern eine Stoff puppe. Nach w enigen Sekunden ließ sie ihn abrupt los, richtete sich auf und marschierte zum Haus zurück, wo meine Mutter hinter der Fliegengittertür wartete. Wie ein fortgeworfener Lumpen fiel mein Onkel auf die Steine zurück, und im ersten Moment dachte ich tatsächlich, er sei tot – bis er ein Bein bewegte. Stunden später, als es dunkel war, ging meine Mutter zu ihm hinaus. Durchs offene Fenster des Zimmers, das ich mit Mandy teilte, hörte ich die beiden reden, verstand aber nicht, was sie sagten. Wir würden bald in die Stadt zurückkehren und fort sein; doch jetzt lockte meine Mutter erst einmal ihren Bruder wieder von seiner Leiter der Angst und Verzweiflung herunter.
    »Armer Stanley«, sagte sie an jenem Wintertag und blickte aus dem Fenster, als könnte sie ihn dort draußen entdecken, wie er ziellos vor dem Minimarkt auf und ab lief. »Ich bin sicher, er wollte nie – « Es läutete zum Mittagessen, und sie unterbrach sich mitten im Satz. Ich begleitete sie bis zum Speisesaal und ging dann weiter den Flur entlang und hinaus ins Freie.

I n der Zeit, von der ich Ihnen schon erzählt habe – ich meine die Zeit, in der meine Mutter und meine Tante zeitweilig allein miteinander in diesem Farmhaus lebten –, waren sie, und das fällt mir jetzt erst auf, nicht annähernd so alt, wie sie mir damals vorkamen. Ich war erst Studentin, dann Doktorandin und schließlich Dozentin an der Universität in der Stadt, so dass praktisch alle, mit denen ich im Alltag zusammenkam – Professoren ausgenommen –, jung waren und eine Zukunft vor sich hatten, der sie zielstrebig

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