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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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Das rote Siegel kennengelernt hatte; das Buch hatte er nach seiner Ankunft in Amerika verschlungen, weil er mehr über den Bürgerkrieg erfahren wollte, aber auch weil das Buch sich ihm zum Verschlingen aufgedrängt hatte. Er war mutterseelenallein, und doch packte ihn manchmal der Kameradschaftsgeist der Mannschaft, als ginge sie im selben Raum ihren Tätigkeiten nach, in dem er saß und las, und er spürte das Schlingern des Schiffs unter seinem Stuhl. Als er länger als eine Woche mit keiner Menschenseele gesprochen hatte, begann er sich einzubilden, er wisse mehr über das Leben an Bord eines Walfängers als über das Leben in einem zylindrischen Turm.
    Schließlich aber kehrte der Oberwärter O’Brien zurück und brachte seine laute, umtriebige Familie mit. Gerald Butler freute sich an den Kindern und war nicht ganz unempfänglich für Mrs O’Briens Mahlzeiten. Moby Dick war zwar nicht völlig aus seinen Gedanken verdrängt, wurde aber flüchtiger und schemenhafter. Das Gezänk der Kinder und ihre Wettkämpfe, das Chaos bei den Mahlzeiten und der Lärmpegel am Morgen hatten ihn bald ans feste Land zurückgeholt.
    Aber natürlich hörte er nicht auf zu lesen. Sechs Monate später, als er die Juniausgabe von Scribner’s aufschlug, blieb er am ersten Satz einer Geschichte von Stephen Crane hängen. »Keiner von ihnen hatte einen Blick übrig für die Färbung des Himmels«, lautete der. Warum nicht, fragte sich Gerald und blickte zu einer vorüberziehenden Wolke hinauf. Und kehrte gleich wieder zu seiner Lektüre zurück. Dort folgte er einer Beschreibung von Wellen, von smaragdgrünem und bernsteingelbem Wasser, einer fernen Küstenlinie und einem kleinen offenen Rettungsboot auf See. Und einem kurzen Dialog, der einen Bezug auf den Leuchtturm von Mosquito Inlet enthielt. Sein Mosquito Inlet, seinen Leuchtturm! Gerald blickte einen Moment lang aufs Meer hinaus, ließ den Umstand in sich eindringen und kostete das Erlebnis aus, einen Ort, der ihm innig vertraut war, in gedruckter Form verewigt zu sehen; dann versenkte er sich mit noch größerer Hingabe wieder in die Geschichte.
    Möwen tauchten auf und verschwanden wieder. Die Schiffbrüchigen hassten sie. Die See warf die kleine Nussschale von einem Boot umher, schlug gegen seine Flanken, schwappte über das Dollbord. Seetang trieb vorüber. In der Nähe drückten sich Haie herum.
    »›Sehn Sie ihn?‹, fragte der Kapitän.« Gerald hielt inne und blickte wieder aufs Meer hinaus. Was denn, fragte er sich und wusste die Antwort. Er blätterte um, und einer der Männer im Boot sah, was der Kapitän meinte. Der Leuchtturm ragte in den Himmel »genau wie eine Stecknadelspitze«. Das Boot hingegen war praktisch untergetaucht. »Dann und wann schoss ein riesiger Wassersturz wie weiße Flammen über Bord.«
    Geralds Herz hämmerte. Der Leuchtturm »hatte jetzt schon fast Farbe angenommen«, las er, und dann sprangen ihn die Zeilen an, die er gefürchtet hatte, in schrecklichem Schwarz auf dem Weiß der Seite. »›Jetzt müsst’ uns der Wärter schon sichten, wenn er durch ’n Glas schaut‹, meinte der Kapitän. ›Er wird sicher gleich die Rettungsmannschaft alarmieren.‹« Gerald blätterte nach hinten zu den Anmerkungen über die Autoren dieser Ausgabe der Zeitschrift. »Mr Stephen Crane schrieb die Geschichte auf Seite 48, nachdem das Schiff ›Commodore‹ am 3. Januar dieses Jahres vor der Küste von Florida gesunken war und er 36 Stunden in einem Dingi überstanden hatte.« Während seiner Wache, begriff Gerald mit Grauen, während seiner Wache!
    Er tauchte abermals in die Geschichte ein. »›Nein‹, erwiderte der Koch. ›Merkwürdig, dass sie uns nicht sehen!‹« Meinem Urgroßonkel stiegen die Tränen in die Augen. Moby Dick tauchte auf und wieder ab. Er wagte nicht weiterzulesen, doch ein Gefühl von Unausweichlichkeit und die Schönheit der Prosa bannten ihn. »Langsam, wundervoll, stieg das Land aus der Flut«, las er. »Der Wind kam wieder auf. Er hatte von Nordost nach Südost gedreht. Nach einer Weile drang den Männern im Boot ein neuer Laut zu Ohren. Das war der gedämpfte Donner der Brandung an der Küste.« Gerald hörte das Geräusch, er lauschte ihm Nacht für Nacht, seit Monaten. »›Ausgeschlossen, dass wir den Leuchtturm jetzt schon kriegen‹, sagte der Kapitän. ›Dreh noch ’n Strich Nord, Billie‹, sagte er.«
    Stephen Crane lebt, dachte Gerald mit großer Erleichterung. Der Text hätte sonst nicht geschrieben werden können

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