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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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– auch die Anmerkung über den Autor nicht. Die Sache war glimpflich ausgegangen, woran er natürlich keinen Anteil hatte; trotz allem – es hatte ein glückliches Ende genommen.
    In geringfügig besserer Gefühlslage las er weiter, und erst beim vorletzten Satz drehte es ihm den Magen um. »Der Willkomm des Landes an die Männer von der See war warm und hochherzig; aber ein stiller, triefender Körper wurde langsam strandaufwärts davongetragen, und was das Land ihm zum Willkomm bieten konnte, war nur noch die teilnahmslose und düstere Gaststätte eines Grabes.« Im ersten Moment fragte er sich, welche Aufgabe der tote Maschinist auf dem Boot wohl erfüllt hatte, doch dann verbarg er den Kopf in den Händen und weinte. Er hasste Moby Dick . Was für eine Rolle spielte es, dass Daboos tätowierter Arm einer Steppdecke ähnelte? Wen kümmerte »das grässliche Weiß … das so widerwärtige Sanftheit verleiht«? Er hatte in seinen Pflichten versagt. Er hatte Rettung und Zuflucht verwehrt.
    Die ganze Nacht hindurch bewachte er das Leuchtfeuer. Und wenn es keine Bewachung brauchte, spähte er in jene Bereiche des Meeres, die das Licht vom Turm sichtbar machte, und in die pechschwarze Finsternis dahinter und lauschte dem Klang der Wellen und des Windes, bis er fast durchdrehte. Nord, Nord, Nord, schien die Brandung zu sagen. »›Ausgeschlossen, dass wir den Leuchtturm jetzt schon kriegen‹, sagte der Kapitän. ›Dreh noch ’n Strich Nord, Billie‹, sagte er.« Ob er die konzentrischen Linsen des berühmten Fresnel-Lichts polierte oder ob er in Lichtstrahlen und Schwärze hinausstarrte, wiederholte er sich im Geist diese Sätze, bis er zu der Überzeugung gelangt war, dass der freundliche Befehl darin nicht nur dem Koch an den Riemen galt, sondern ganz besonders ihm selbst. »… noch ’n Strich Nord«, sagte der Kapitän. Als der Tag anbrach, hielt sich Gerald ein Fernrohr vors Auge, suchte die Fläche des Meeres nach einem kleinen gefährdeten Boot ab und betete um eine Chance, sein Versäumnis wiedergutzumachen. Aber er hatte seinen Beschluss schon gefasst. Er würde nach Norden gehen, zu seinem Bruder auf der anderen Seite des Eriesees; er würde sich dort Arbeit suchen. Ein See bringt Menschen nicht um wie das Meer, lautete sein Trugschluss. Er wollte noch am selben Morgen aufbrechen.
    Und so kam es, erzählte mein Onkel, dass mein Urgroßonkel, bisweilen auch »der gewesene Leser« genannt, den Leuchtturm an der äußersten Spitze des jetzigen Schutzgebiets bemannte. »Er hatte keinen Schutz geboten, als Not am Mann war«, schloss mein Onkel, »und deshalb konnte es auch für ihn keine Rettung und keine Zuflucht geben. Als ihm klar geworden war, dass in Sichtweite seines Leuchtturms mehr Schiffbrüche stattfanden als irgendwo sonst im System der Großen Seen, wollte er nicht wahrhaben, dass die Ursache der Tragödien nicht seine Pflichtvergessenheit war, sondern die Gefährlichkeit des Sees in diesem Bereich. In einem besonders stürmischen November, als die Eigentümer der Reedereien wieder einmal mit fatalem Ergebnis eine allerletzte Fracht zu befördern versuchten, ging er die Wendeltreppe hinunter, und das Herz war ihm schwer vor Kummer und Schuld. Er schloss die Turmtür hinter sich ab und ging ins Wasser.
    Wie der Maschinist aus dem ›Rettungsboot‹ wurde er gefunden, ›das Gesicht nach unten, die Stirn auf dem Sand‹. Und wie der Maschinist lag er ›auf einer seichten Stelle, von der das Wasser zwischen Woge und Woge jedesmal ablief.‹«
    »Das sind zwei gewichtige Wörter«, sagte mein Onkel, der mit seiner Handlungsunfähigkeit genau in dem Augenblick, in dem alles auf dem Spiel stand, schließlich seine eigene »widerwärtige Sanftheit« offenbarte. »Rettung, Zuflucht«, sagte er.

M ein Onkel ruinierte ständig etwas, sei es aus Versehen oder mit Absicht, sei es zufällig oder, wie ich glaube, manchmal mit unbewusstem Vorsatz. Da waren die Felsbrocken am Strand, die mit einem Hammer zertrümmert wurden, wenn er nach Fossilien suchte. Dann diese Garage, von der ich Ihnen erzählt habe. An meinem Sommerfahrrad platzte einmal ein Schlauch, weil er den Reifen zu stark aufgepumpt hatte. Wenn er versuchte, eine Fensterscheibe auszuwechseln, war das Resultat oft Scherben. Und dann kam der Tag, an dem er das Haus beschädigte.
    Zwischen dem Kamin und der äußeren Westwand, wo sich der Kamin befand, hatte sich ein langer V-förmiger Riss gebildet, und mein Onkel hatte sich zu der Idee verstiegen,

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