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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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Abneigung gegen Ehefrauen, in der er sich ihm verbunden fühlte.
    Frauen machten ihm über die Maßen Angst, sagte mein Onkel, es sei denn, sie waren Charaktere aus Büchern. Im Lauf der Jahre war er kurz in Scotts Flora McIvor verliebt gewesen, in Grünmantel, Rachel Geddes und Rose Flammock, aber auch in Estella aus Große Erwartungen , in Nancy aus Oliver Twist und nach dem Tod seiner Mutter kurzfristig in Peggotty aus David Copperfield .
    Nachdem er sich also in die Abläufe am Mosquito Inlet eingearbeitet hatte, begann er systematisch amerikanische Literatur zu lesen, er abonnierte, kaum hatte er davon gehört, Scribner’s Magazine und bestellte so viele Bücher, wie sein Gehalt zuließ.
    Die Lektüre der Zeitschrift machte ihn mit Lee Bacon bekannt, mit Charles G. D. Roberts, W. H. Henderson, der über das Meer schrieb, und mit dem kleinen Gedicht »Abschied« von Emily Dickinson, in die er sich ebenfalls für kurze Zeit verliebte. Bald war er der Zeitschrift regelrecht verfallen und ließ nur von ihr ab, um Melvilles Moby Dick zu lesen und wieder zu lesen. Nachdem er ungezählte Stunden über das Wasser zum Horizont gestarrt und bis zu seiner Auswanderung nach Florida weitere ungezählte Stunden damit zugebracht hatte, sich gegen die Kälte der Sturmböen vom Meer neben einem Torfofen in einer Ecke zusammenzukauern, waren Geschichten über das Meer eine Art Heimat für ihn.
    1897 , als Gerald seit etwa einem Jahr in Florida lebte, nahm sich der Oberleuchtturmwärter O’Brien über Weihnachten zehn Tage Urlaub, um Verwandte in Georgia zu besuchen, und mein Urgroßonkel hatte die alleinige Verantwortung für den Leuchtturm und alle mit ihm verbundenen Pflichten. Nachdem er auf Valentia in Irland Oberleuchtturmwärter gewesen war, kannte Gerald Butler diese Pflichten gut. Er hatte nicht nur dafür zu sorgen, dass das Leuchtfeuer brannte, sondern musste auch dauernd Ausschau halten, mithilfe des Morsealphabets Mitteilung machen, falls es etwas zu berichten gab, das Wetter beobachten und seine Feststellungen protokollieren, in nebeligen Nächten Nebelalarm geben, und schließlich musste er, falls es nötig war, den Rettungsdienst herbeirufen und gelegentlich auch Zuflucht bieten.
    Zu jener Zeit war er von Moby Dick vereinnahmt und auf jede mögliche Art in dessen Welt eingedrungen, auf die man in die Welt eines Buchs eindringen kann. »Amanda! Was sind die vier Arten, auf die man in ein Buch eindringen kann?«, fragte mein Onkel in diesem kritischen Augenblick gern. »Emotional, ästhetisch, geistig und philosophisch«, zählte sie pflichtbewusst auf. »Gerald«, fuhr mein Onkel daraufhin fort, »war in dem Stadium des Wiederlesens angelangt, in dem es möglich ist, bestimmte Gefühle einfach an der Gestalt eines erinnerten Absatzes auf einer Seite zu identifizieren.« Und doch war er anscheinend immer noch in der Lage, sich von einer Bemerkung Ahabs, sogar von einer unbedeutenden Geste einer Nebenfigur überraschen, ja schockieren zu lassen. Er hatte ein großes Interesse am Zeitvertreib von Walfängern entwickelt und schon selbst mit der einen oder anderen Walzahnschnitzerei angefangen. Er dachte lange über die Kapitel »Das Weiß des Wals« und »Der Geisterspaut« nach. Er hatte daher ein Stadium erreicht, in dem ihm die fiktive See aufregender und interessanter vorkam als das echte Meer, das er hätte beobachten sollen und oft links liegen ließ. Wahrscheinlich dachte er sich, diese Januartage und -nächte in Florida seien so überaus ruhig, dass ein ab und zu von der Seite des Buchs losgerissener flüchtiger Blick zum Horizont genüge. Die Wellen brachen eine halbe Meile vor der Küste wie fast immer, und der Wind schien ihm leicht und konstant, auf jeden Fall im Vergleich mit allen Winden, die Irland heimgesucht hatten, und tatsächlich viel leichter als die Winde, die auf so manchen Buchseiten auf die Pequod einprügelten.
    Er schwelgte in seinen literarischen Entdeckungen, die allmählich, wenn auch eher planlos und willkürlich, zu den Erkenntnissen eines belesenen Menschen wurden. Zum Beispiel notierte er, dass ihn der erste Absatz des Kapitels »Die Steppdecke« an zwei von Robert Louis Stevensons Gedichten für Kinder erinnere, »Das Steppdeckenland« und »Bett im Sommer«, und er fragte sich, ob Stevenson wohl Moby Dick gelesen und ob diese Lektüre seine Thematik beeinflusst habe. Er entdeckte Ähnlichkeiten zwischen der Gemeinschaft an Bord der Pequod und den Soldaten, die er in Stephen Cranes

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