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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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daran sei nicht der sich neigende Kamin schuld, sondern das Haus selbst. Das Haus habe sich gesenkt, erklärte er uns, und das sei die Ursache, weshalb es sich vom Kamin trenne, der völlig senkrecht stehe: pfeilgerade. »Dieses alte Haus«, sagte er zu uns, »muss wieder aufgerichtet werden, und ich glaube, ich weiß jetzt, wie man das macht.« In diesem Sommer hörte man ihn immer wieder mal Selbstgespräche über das Haus und seinen Zustand führen, als hätte ihn ein Abscheu davor ergriffen, als hätte ihn das Haus als solches auf irgendeine unsägliche Weise verraten. »Ständer und Balken«, sagte er einmal erbittert zu meiner Mutter, während sie nur den Kopf schüttelte und ihn auslachte. »Es ist nichts als eine große Schachtel, die langsam verrottet.«
    Die Mütter waren an diesem Tag unterwegs, auf Einkaufstour vermute ich, oder vielleicht auf einer Besuchsrunde bei den älteren Verwandten in den abgelegenen, verstaubten Dörfern im Hinterland. Mandy und ich waren in der letzten Phase unserer Kindheit. Sie hatte das Schatzkästchen der Gedichte für Kinder hinter sich und las jetzt Dichter wie Edna St. Vincent Millay und Carl Sandburg – »Der Nebel kommt auf Katzenpfötchen« – , und ich hatte schon ein Interesse an Insekten entwickelt. Ich hatte mehrere Marmeladengläser (in deren Zinndeckel ich Löcher gestanzt hatte) mit verzweifelten kleinen krabbelnden Geschöpfen gefüllt, die an den gläsernen Wänden hinaufkriechend zu fliehen suchten und die Blätter, die ich ihnen als Nahrung in ihr durchsichtiges Gefängnis gelegt hatte, vollständig ignorierten.
    Es muss ein Samstag gewesen sein; ich weiß noch, dass in den Plantagen und auf den Feldern keine Mexikaner waren. Die Jungs, Teo unter ihnen, wurden von ihren Spielen fortgeholt und mussten helfen, ebenso Teos Mutter, die Vorarbeiterin, die neben der Baracke der Arbeiter einen alten Wohnwagen für sich hatte. Ihr Sohn war jetzt anscheinend alt genug, um mit den anderen männlichen Arbeitern im »Quartier« zu schlafen, wie meine Tante gern sagte, während wir anderen nach wie vor von der Baracke sprachen.
    Mit einer zentnerschweren Rolle Seil, das armdick war, brach mein Onkel in unseren Nachmittag ein. Mit unserer Hilfe – wir wurden an jeder Ecke und in regelmäßigen Abständen entlang den Seiten postiert – spannte er das Seil ums Haus und zog den Rest der Rolle auf die Zufahrt hinaus, wo der Traktor wartete. Der Motor wurde angelassen, der Traktor setzte sich in Bewegung, und ich erinnere mich an ein Brennen in den Händen, weil mir das Hanfseil unerwartet entrissen wurde, und an den Geruch von Dieselrauch, an ein leises Ächzen, einen kurzen Ruck. An der Ostseite des Hauses hatte sich zwischen den Bodenbalken und dem Fundament ein Spalt aufgetan. Mein Onkel klemmte drei, vier Holzkeile hinein und schaufelte eimerweise Beton hinterher, den er zuvor angerührt hatte, während wir alle nervös danebenstanden. Nur Teo nicht: Der bekam eine Kelle in die Hand gedrückt und hatte die Aufgabe, die von meinem Onkel übersehenen Stellen mit dem nassen grauen Brei zu füllen. Ich weiß noch, dass ich dachte, er habe diese Lücken absichtlich gelassen, weil er wollte, dass Teo mit ihm zusammenarbeitete. »Du bist der Ausfüller«, sagte er zu ihm.
    Dass man mit etwas so Großem und Dauerhaftem wie einem Haus herumpfuschen kann, war für meine Cousins und mich so erstaunlich wie Peter Pans fliegendes Schiff oder die vom Wirbelsturm davongefegte Farm im Zauberer von Oz , so erstaunlich wie die mühsame Verlegung und anschließende Zersprengung der Scheune des Alten Urur. Wir wussten, dass nur unser Onkel diese Verwandlung des Alltäglichen und Festgefügten, diese wundersame, wenn auch nicht seismische Verschiebung zustande bringen konnte. Er ging mit uns zur Westseite des Hauses zurück und posierte für Mandys neue Kamera vor dem Kamin, der sich jetzt genau so an die Außenmauer schmiegte, wie es die Urure beabsichtigt hatten. Dann bat er uns ins Haus, zu Erfrischungen, wie er sagte.
    Die Küche war heiter und unverändert. Aber als wir durch die Tür hinüber ins Wohnzimmer schauten, sahen wir, dass der von meiner Tante so hochgeschätzte Dielenboden im Zuge der Ereignisse zersplittert war wie Kleinholz. Als diese Erkenntnis in uns eingedrungen war, machten sich Teo und seine Mutter hastig davon. Auch ich und meine Cousins verließen das Haus; wir saßen in einer Reihe an dem Picknicktisch entlang der Zufahrt und warteten mit einer Mischung aus

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