Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
Vom Netzwerk:
einmal zu Halloween getragen. Wir fanden alle, dass ein Cape oder Zylinder genau das Richtige für unsere Schneemänner sei, die sich jetzt der Fertigstellung näherten. Doch wie seine Ernten waren auch die Ideen meines Onkels nichts, wenn sie nicht überreichlich flossen, und deshalb lief er unermüdlich in den Dachboden hinauf und kam mit den Armen voll dunklem Tuch zurück, und dazu strahlte er so hingerissen, als sei ihm ein überwältigendes Bekehrungserlebnis zuteilgeworden. Und in dem Moment begriff ich, dass er unter dem Bann irgendeiner absurden Kombination aus Humor und Ahnenverehrung stand und tatsächlich versuchte, dort draußen auf der trostlosen Dezemberwiese die Urure auferstehen zu lassen. Er hängte die Kleidungsstücke über den Zaun, der rings um den Hof lief, zog seine durchweichten Handschuhe aus und den alten zerbeulten Flachmann aus der Tasche, wie wir schon etliche Male im Verlauf des Nachmittags beobachtet hatten. Das Silber blitzte in dem Lichtschein vom Haus her. »Was denkt ihr?«, fragte er.
    »Mir ist kalt«, antwortete Mandy, leicht missmutig. »Das denke ich. Ich friere.«
    Er ignorierte sie. »Was denkt ihr – wollen wir auch ein paar Kriegerinnen neben den Kriegern?«
    »Nein.« Shane stampfte mit den Füßen auf dem Boden, um sie aufzuwärmen. »So was gibt’s nicht.«
    »Und selbst wenn«, sagte Mandy, »hätten sie keine Kleider an.«
    »Eins sag ich euch.« Mein Onkel schraubte seinen Flachmann wieder zu; er sah uns nicht an. »Eins sag ich euch. Die Kriegerinnen in meinem Leben haben sehr wohl Kleider an.«
    Schließlich benutzte er zehn Zentimeter lange Nägel, um die Kleidungsstücke an den Schneemännern zu befestigen. Während er auf der Suche nach dem Hammer war, wurden wir ins Haus gerufen, und er war wütend. Wütend auf seine Frau, stelle ich mir vor, weil sie wieder mal eines seiner Projekte sabotierte, wütend auf uns, weil wir dem Druck der Frauen nicht standhielten und ihn im Stich ließen, und wütend auf sich, weil er nicht im Voraus bedacht hatte, dass ein Schneemann sich nicht in ein Samtjackett oder ein Seidenkleid pressen lässt. Ich beobachtete ihn vom Haus aus und dachte an die dichtende Lehrerin, die unser Vorfahr geliebt hatte: Auch sie hatte, als es der Augenblick erforderte, das ihr zugedachte Gewand nicht tragen können. Mein Onkel war unterdessen wieder draußen zugange und hatte im Handumdrehen unser Auto, sein Auto und einen Lastwagen angelassen, die jetzt mit laufenden Motoren vor dem Zaun standen, so dass er die begonnene Aufgabe im Licht ihrer Scheinwerfer fortsetzen konnte.
    Meine Tante riss die Tür auf. »Stanley, hör auf, in Gottes Namen!«, schrie sie. »Komm rein! Das ist doch verrückt!«
    Ein Obstbauer im Winter kann ein verzweifeltes Tier sein, auch wenn er hochfliegende, fortschrittliche Ideen und eine gebildete Frau hat. Um wieder Früchte zu tragen, brauchen die Pfirsich-, Apfel- und Kirschbäume eine lange Ruhephase, und die Voraussetzung dafür sind Kälte und Inaktivität, damit der Entwicklungsprozess so langsam wie möglich ablaufen kann. Ist es zu warm oder sind die Temperaturschwankungen zu hoch, so empfangen die Knospen nicht die Signale, die sie zum Wachstum brauchen, und es kann sein, dass der Baum im folgenden Jahr gar nicht trägt. Es wäre dasselbe, als erwartete man von einer Raupe, dass sie ohne die Umhüllung und Ruhe des Kokons zum Schmetterling reift. Heute denke ich, dass auch mein Onkel, wie die Obstbäume, die er hegte und pflegte, dringend eine Ruhephase gebraucht hätte, um für die Riesenwelle Arbeit, die ihn im Frühjahr und Sommer überrollte, gerüstet zu sein. Das Problem war, dass ihm allein die Vorstellung, bei entsprechender Ruhe könnte er mit jeder beliebigen Jahreszeit fertig werden, zuwider war. Sein ganzes Wesen war auf Handeln ausgerichtet, auf Beschäftigung jeglicher Art. Still zu sitzen war ihm geistig und körperlich unmöglich. Und einen Mittelweg gab es nicht : Er war überzeugt, dass das Gegenteil von Lebendigkeit der Tod sei, und aus wissenschaftlicher Sicht hatte er natürlich recht – was nicht lebt, ist tot. Aber seine eigene Vitalität war extrem und ungeheuer anstrengend. Nie sah ich ihn schlafen – ich kann ihn mir noch heute nicht schlafend vorstellen.
    Gut eine Stunde arbeitete er an diesen weißen Gespenstern im Hof und nagelte ihnen Schürzen und Gehröcke in ihre Schneeleiber. Ein Spiel für Kinder eigentlich, aber eines von der Sorte, bei der es irgendwann sogar den Kindern

Weitere Kostenlose Bücher