Der Schmetterlingsbaum
dass ihn der Ladenbesitzer schließlich fragte, ob er vielleicht eine bestimmte Karte zu bestellen wünsche. Im Frühjahr fand er endlich, was er suchte: Auf cremefarbenem Hintergrund standen, von Veilchen umrahmt, die Worte An meine heimliche Liebe , und als er sie aufklappte, las er, endlich, die Worte, die er gesucht hatte. Die Karte zu kaufen war allerdings eine andere Sache. Es soll ein Scherz sein, sagte er schließlich, für meine Schwester. Wir hatten Streit.
Tags darauf verschickte er die Karte, unsigniert.
Vielleicht, sagte mein Onkel, hatte der junge Urur damals gar nichts anderes gewollt, als diese Karte zu schicken, vielleicht hatte er auch gehofft, Alice werde erraten, wer der Absender sei, und ihm ihrerseits ein Zeichen zukommen lassen, und als das Zeichen ausblieb, kam er sich vor wie ein Narr und war gedemütigt. Wie auch immer – von dem Tag an lieh er sich kein einziges Buch mehr von ihr, sondern widmete sich ausschließlich der Zimmerei, mit der er einige Zeit zuvor begonnen hatte, verdiente recht anständig damit, und weiter geschah nichts, bis er ein Jahr später hörte, Alice sei schwer krank. Dann, und erst dann entschloss er sich, sie zu heiraten.
An einem Herbstabend stand er, mit seinem einzigen Anzug angetan, in der Hand einen Strauß der letzten Rosen des Sommers und in der Brusttasche einen in Toronto erstandenen Diamantring, vor ihrer Tür. Eine Frau machte auf, sah ihn fragend an, stellte sich dann als Alicens Schwägerin vor. Sie führte ihn durch die Küche, in der all die Gedichte entstanden waren, ins Wohnzimmer, wo Alice mit einer Decke über dem Schoß und einem Schal um die Schultern saß.
Keiner von beiden sagte ein Wort, bis sie endlich ihre Kräfte so weit zusammennahm, dass sie ihn fragen konnte, ob er gekommen sei, um sich ein Buch zu leihen. Da reichte er ihr seine Rosen und betrachtete ihr verhärmtes Gesicht, dessen Miene noch Spuren ihrer einstigen Schönheit und Klugheit zeigte. Bis er den Mut fand, den Ring hervorzuziehen, war sie eingenickt. Also legte er ihr die kleine Schachtel auf den Schoß und schlich aus dem Haus. Als er am folgenden Tag wiederkam, sagte ihm die Schwägerin, Alice sei zu schwach, um aufzustehen, habe aber einen Brief für ihn hinterlegt, einen Umschlag mit einer Karte darin. Nach Hause zurückgekehrt, riss er den Umschlag auf und sah sich diese Karte an, auf deren Vorderseite, in Gold geprägt, die überwältigenden Worte standen: Meinem Verlobten . Er brachte es fast nicht über sich, den Vers auf der Innenseite zu lesen – Meine Freude zu bekunden, Dass wir beide uns gefunden … – oder ihren mit zitternder Hand geschriebenen Namen am Fuß der Seite zu betrachten. Bei seinem nächsten Besuch aber nahm er die Karte mit, zeigte er sie der Schwägerin und wurde ins Schlafgemach vorgelassen.
Bei ihrem Anblick war ihm klar, dass sie im Sterben lag, sagte mein Onkel, und wenn er sie heiraten wollte, galt es, rasch zu handeln. Ein Hochzeitskleid war das Einzige, das sie herausbrachte. Vielleicht war es der Beginn eines Verses, der in ihrem Geist entstand, der junge Urur aber wusste fraglos, dass sie dieses Kleidungsstück von ihm erwartete.
Die Schwägerin trommelte die wohltätigen Damen von der Kirchengemeinde zusammen, die den ganzen nächsten Tag und die folgende Nacht an dem Kleid arbeiteten und auch den Schleier beschafften, an den er in seiner Hast gar nicht gedacht hatte. Die Damen alarmierten auch den Geistlichen, und seine eigene Mutter zog ihren Ehering vom Finger, damit er bei der bevorstehenden Zeremonie zum Einsatz käme. Drei Tage später, pflegte mein Onkel an dieser Stelle der Geschichte zu sagen, heiratete ein Urur mittleren Alters die unwesentlich ältere Liebe seines Lebens, und binnen sechs Stunden war sie an Tuberkulose gestorben.
Am Ende war sie zu schwach gewesen, um das Hochzeitskleid zu tragen; diesen Teil der Geschichte schätzten Mandy und ich besonders. Sie war so schwach gewesen, dass man ihr den Schleier auf das Kissen hinter ihrem Kopf und das prächtige Satinkleid auf die Bettdecke legen musste.
Nur noch zeitweise bei Bewusstsein, konnte sie lediglich zustimmend nicken, als der Geistliche ihr die entsprechende Frage stellte. Der Urur steckte ihr den Goldreif an den Finger und hielt ihre Hand – es war das einzige Mal, dass sie einander berührten. Es hieß, im Tod sei ihre jugendliche Schönheit zurückgekehrt, und die Frauen hätten dann ihre Leiche in das Hochzeitskleid gehüllt, das sie im offenen
Weitere Kostenlose Bücher