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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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meinte ich in seinem Gesichtsausdruck echte Wut zu erkennen. Bei einem dieser Scharmützel verstauchte sich Don das Handgelenk, und es folgte eine Fahrt ins Krankenhaus: Alle drei Elternteile fuhren mit, meine Mutter zweifellos damit beschäftigt, Don zu trösten und zugleich Tante Sadie zu beschwichtigen, die fuchsteufelswild auf ihren Mann gewesen sein dürfte. Die Nachbarskinder, die mitgespielt hatten, trotteten nach Hause, und der Rest blieb im schwindenden Licht zurück. Mandy und Shane gingen ins Haus, um fernzusehen, Teo und ich aber wanderten zum Seeufer, und dort saßen wir nebeneinander, warfen Steine ins Wasser und erlaubten unseren Händen, einander sehr selten, sehr verstohlen zu berühren.
    Worüber wir sprachen, weiß ich nicht mehr, vielleicht redeten wir einfach über die Steine und das Wasser, aber sehr gut weiß ich noch, wie sich die Scheu zwischen uns langsam verflüchtigte. Im Lauf der Tage redeten wir weniger stockend und schwerfällig, und an die Stelle der Entfremdung, die ich empfunden hatte, trat nach und nach eine neue Gefühlslandschaft. Ohne uns eigens zu verabreden, trafen wir uns am nächsten und übernächsten Abend wieder an derselben Stelle, wo wir vom Haus aus deutlich zu sehen waren. Wir glitten in diese neue, vertraute Gemeinschaft hinein – über den Nachmittag im Auto verloren wir beide kein Wort – , als eigneten wir uns einen neuen Beruf an, dessen Fertigkeiten wir noch nicht vollständig beherrschten: ein Blick, eine Berührung, ein Tonfall. Aber ich glaube, wir wussten beide, dass uns diese Fertigkeiten mit der Zeit geläufiger und vertrauter würden und uns am Ende so selbstverständlich zur Verfügung stünden, als hätten wir sie seit jeher angewandt.

    Nachdem ihr Mann fort war, ihre Schwägerin noch in der Stadt lebte, ihre erwachsenen Kinder immer tiefer in ihr eigenes, eigenständiges Leben eintauchten, verbrachte meine Tante mehrere Winter allein in diesem Haus. Ich stelle sie mir vor, wie sie an verschiedenen Fenstern steht, die Blätter von den alten Ahornen fallen sieht und die langsame Entstehung einer Eiskruste am Seeufer beobachtet, wie ihr elegantes Gesicht nach und nach, beinahe unmerklich, seine Klarheit einbüßt und weiche, vom Alter verwischte Züge annimmt. Es wird in dieser Zeit gewesen sein, dass sie mit einer eigenartigen, verstörenden Beschäftigung begann, von der ich nichts wusste, bis ich ein paar Jahre später hier einzog.
    Als ich meine Arbeit an der Forschungsstation aufnahm, war es Ende September und Zeit für die Herbstwanderung, weshalb mich die Schmetterlinge fast die ganze Zeit, solange es hell war, in Anspruch nahmen. Irgendwann aber machten sie sich auf den Weg, und ich hatte ein paar freie Vormittage in diesem Zimmer, dessen Regale noch mit der Kollektion antiker Pressgläser gefüllt waren. Die Spätsommersonne, die schon merklich tiefer stand, fiel weit in den Raum hinein und machte den Staub auf allen vierzig dieser kostbaren Sammlerstücke sichtbar, sogar für mich. Ich musste an die akribische Pflege denken, die meine Tante jedem Glas hatte angedeihen lassen, und beschloss, sie zu waschen. Als ich zehn oder zwölf Gläser in heißes Spülwasser getaucht hatte, musste ich zu meinem Schrecken feststellen, dass mir Stück um Stück, Muster um Muster – Ochsenauge, Weinrebe, Maßliebchen und Knopf – einfach zwischen den Händen auseinanderbrach. Ich stand vor einem Rätsel und dachte zuerst, das Wasser sei vielleicht zu heiß für das alte Glas. Ich klaubte die Scherben zusammen, ließ kaltes Wasser nachlaufen, nahm mir die nächsten Gläser vor. Und staunte nicht schlecht, als auch diese in Einzelteile zerfielen. Ich nahm eine Schale aus dem Regal und hielt sie gegen das Licht, und jetzt erkannte ich mehrere Sprünge im Glas und ein winziges angetrocknetes Tröpfchen Klebstoff. Ich untersuchte die übrige Sammlung und begriff. Sadie hatte sämtliche Gläser zerbrochen und dann alles wieder zusammengeklebt, Stück für Stück. Und bestimmt hatte meine pingelige Tante, warum auch immer, jeweils nur ein Glas zerbrochen, denn das Puzzle, das bei der spontanen Zertrümmerung der vollständigen Sammlung entstanden wäre, hätte kein Mensch mehr zusammensetzen können; sie aber hatte sich offenbar bemüht, den Schaden zu reparieren. Eine Zeitlang hatte sie den Schein jedenfalls noch wahren können.
    Was mich verwirrte, war nicht die Zerstörung, sondern das mühselige Zusammensetzen der Scherben. Der Gedanke an die alternde Frau, die

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