Der Schmetterlingsbaum
zu viel wird. Diese Kleidungsstücke verbreiteten eine trübselige, grabesdunkle Stimmung, und bald wandten wir uns vollständig ab, zogen uns in die Sicherheit von Brettspielen mit ihrer leicht verständlichen Folge von Anweisungen zurück, während sich mein Onkel im Abendfrost mit Schnee und Lumpen plagte. Bei ihm war es so, dass er immer alle Regeln aufstellte, uns dann erläuterte und sie anschließend in seiner extremen Art abwandelte oder vollständig kippte. Der Gedanke, wie er dort draußen stur und einsam in Dunkelheit und Kälte an seinem Plan festhielt, bricht mir das Herz und macht mich gleichzeitig wütend. Es war, als hätte er uns zwingen wollen, seine Hilflosigkeit, seine missliche Lage mit anzusehen und anzuerkennen, dass es für ihn keine Atempause gab, nie.
Irgendwann im Lauf der Nacht stieg die Temperatur über den Gefrierpunkt, und es fing zu regnen an. Es regnete den ganzen nächsten und den übernächsten Tag. Die Schneemänner, die erst in sich zusammensackten und dann nach und nach zertauten, erwähnte niemand, auch mein Onkel nicht. Vergeblich versuchte ich, dieses Dahinschwinden draußen im Hof zu vergessen, und mehr als einmal erwischte ich Mandy, wie sie erst durch ein Fenster und dann durch ein anderes spähte, als glaubte sie, die Schneemänner ließen sich durch einen schlichten Standortwechsel wiedererwecken. In der zweiten Nacht setzte ein Eisregen ein, und meine Mutter und ich waren gezwungen, weitere vierundzwanzig Stunden zu bleiben. Am Morgen unserer Abreise lagen die Kleidungsstücke als dunkle Häufchen auf der ganzen Wiese verstreut, als hätten die Urure selbst während der letzten drei Tage ihre Substanz verloren und ihre Schemen wären jetzt von einer zentimeterd icken Eisschicht fü r immer an Ort und Stelle gebannt.
I n dem letzten Sommer, in dem mein Onkel die Farm betrieb, schien er vor Energie und menschlicher Wärme förmlich zu bersten, und weil er immer schon vor Tagesanbruch auf den Beinen war, wurden Mandy und ich jeden Morgen von seinem Gelächter aus der Tiefe jugendlichen Schlafs gerissen. Er quoll über vor Späßen, die häufig auf jemandes Kosten gingen. Er trug sie aber so komisch und im Grunde liebevoll vor, nämlich mit einem Arm um sein Opfer und in neckendem Tonfall, dass man nicht anders konnte, als dankbar für die Zuwendung zu sein. Wir grinsten und wurden rot, wenn er uns mit eingebildeten Verehrern aufzog oder die Songs unserer Lieblings-Rockbands nachzusingen versuchte. Sogar Sadie ertappten wir hin und wieder bei einem verstohlenen Lächeln, wenn er sie in unserer Gegenwart an die Zeit ihrer jungen Liebe erinnerte, an eine bestimmte Nacht im Zelt am Ohio River oder »damals im Kanu«, und sie ihm mit gespielter Missbilligung den Rücken zukehrte. Wir Teenager waren begeistert. »Was für ein Zelt?«, riefen wir. »Was für ein Kanu?« Aber wir bekamen nie eine Antwort. In diesem Sommer war seine Aufmerksamkeitsspanne so kurz, dass er schon wieder von der nächsten Tätigkeit oder Person in Anspruch genommen war, noch bevor wir weiter in ihn dringen konnten, und natürlich hüteten wir uns, meine Tante nach den näheren Umständen zu fragen.
Aber mitten in dieser fröhlichen Stimmung, als die letzten zwei Ferienwochen angebrochen waren, veränderten sich unsere abendlichen Dämmerungsspiele, sie wurden irgendwie wilder – sage ich in Ermangelung eines treffenderen Wortes. Mein Onkel hatte das englische Spiel Rugby entdeckt, und nun trieb er alle Jugendlichen, deren er habhaft werden konnte, im Hof zusammen und teilte uns in Teams ein. Vorbei war es mit der sanften Version Touch Football, jetzt wurde mit hartem Körperkontakt gespielt, der manchmal an Gewalt grenzte. Teo und ich sorgten dafür, dass wir in gegnerische Lager kamen, aber vielleicht ergab sich das auch von selbst, und ich habe es mir im Nachhinein so zurechtgelegt. Doch oft war es Teo, der mich angriff, wenn ich den Ball hatte, und ich erinnere mich an seine Arme um meine Hüften, an seine harten Schenkel an meinen, gefolgt von einem irren Durcheinanderpurzeln im Gras. Es war und blieb das einzige Mal in meinem Leben, dass ich ernsthaft um einen Ball kämpfte. Natürlich hätte ich es niemals zugeben können, aber in Wahrheit war es Teo, um den ich kämpfte, um seine Nähe, seine Arme.
Mit seinen Söhnen konnte mein Onkel bei diesem Spiel manchmal sehr brutal sein – er rammte sie mit regelrechter Begeisterung, zerrte sie hinter sich her übers Gras, und ein oder zwei Mal
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