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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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Sarg trug. Der Witwer baute weiter Sägemühlen im ganzen Bezirk und wurde ungeheuer reich. Bis an sein Lebensende trug er eine schwarze Armbinde, und nie mehr las er ein Gedicht, nachdem er in einer ihrer Karten den, wie er fand, perfekten Grabspruch für sie gefunden hatte:
    Sie ruht in der Erde, die sie gebar,
    Dem Land, das ihre Wiege war,
    und die Blumen, die eine liebende Hand ihr gab,
    beweinen nun ihr frühes Grab.

    Soweit ich weiß, erwähnte Mandy ihren verschwundenen Vater nur ein einziges Mal, und das war im Zusammenhang mit ebendieser Geschichte. Unfassbar, sagte sie, dass er uns diese ganzen romantischen Flöhe ins Ohr gesetzt hat, wenn … Aber sie beendete den Satz nicht, sondern fügte hinzu: Na ja, bei ihm war’s jedenfalls anders, oder? Ich glaube schon, dass meine Mutter ihn beherrscht hat, jedenfalls hat sie’s versucht. Und seine Sache war es dann wohl, Fluchtwege aus ihrer Überwachung zu suchen. Das sagte sie am Beginn des Frühlings vor fast einem Jahrzehnt; sie war zu einem ihrer seltenen Besuche aus Petawawa gekommen und ich aus der Stadt, um sie zu sehen. Vor dem Haus hatte der tauende Schnee die Obstplantage unter Wasser gesetzt. Durchs Fenster sah ich, dass die wenigen verbliebenen Bäume in der silbern glänzenden Flüssigkeit exakte Doppelgänger ihrer selbst hatten.
    Was ist romantisch dran, wenn jemand aus einer gefühlten Gefangenschaft flieht, fragte Mandy.
    Ich pflichtete ihr bei: Es sei wirklich nicht romantisch, wenn einer versuche, einen anderen Menschen mit allen Mitteln zu beherrschen, sagte ich und bemühte mich, mir den bitteren Unterton zu verkneifen. Ich dachte an die Command-and-Control-Theorie, mit der sich Mandy während ihrer Offiziersausbildung auseinandergesetzt hatte.
    Für Mandy selbst hatte die romantische Liebe gewiss nichts mit militärischer Befehlstaktik zu tun. Sondern wohl eher mit der rätselhaften Lyrik, die sie mir manchmal vorlas: Sie wurde, als Mandy noch studierte und von ehrenvollem Dienst an ihrem Land sprach, gegen Disziplin, Uniformen, körperliches Training und Militärstrategie ins Feld geführt. Auf ihre Studienzeit folgten Versetzungen an wenig glanzvolle kanadische Standorte und schließlich eine Reise ins Chaos eines Wüstenkriegs, der in seiner Zielsetzung derart fragwürdig war, dass sogar Mandy, die wie ihre Kollegen dem Dienstethos hundertprozentig verpflichtet war, einmal sagte: Wenn man sich die Geschichte so ansieht, kann man schon den Eindruck haben, dass der Terrorist des einen oftmals der Freiheitskämpfer des anderen ist.
    Und dann diese Hotelzimmer. Wie viel Lyrik kann sie überhaupt dorthin mitgenommen haben? Wie viel von dieser Farm, dem See, den Geschichten ihres Vaters und der schrecklichen Art und Weise, wie der sich von allem fortstahl? Sie war – da war ich mir sicher – eine Gefangene und zugleich eine Vertriebene. Wo blieb dabei der Freiheitskampf?
    Als wir letzten Monat fanden, wir müssten endlich entscheiden, was auf Mandys Grabstein stehen sollte, dachten ihre Brüder und ich sofort an die arme Alice, an Alice und unseren jungen Urur, der ihretwegen die komplizierte Lyrik, die sie ihm lieh, und die trivialen kommerziellen Verse, die sie selbst schrieb, zu lieben begonnen hatte. Wir wollten zwei Grabsteine haben, und darin sollte dieser schlichte Vers über den Ort der letzten Ruhe eingemeißelt sein. Aber die Idee ließen wir wieder fallen, als wir erfuhren, dass das Militär bereits den Standardstein für Mandys Grab vorbereitet hatte: ein Ahornblatt in einem Kreis, darunter ihren Namen, das Geburts- und das Todesdatum.

M eine ganze Kindheit und Jugend hindurch fuhren meine Mutter und ich auch zu Weihnachten und Thanksgiving für ein paar Tage auf die Farm. An den langen Sommertagen, wenn ich jeden Morgen von den Stimmen und Geräuschen der Mexikaner auf dem Weg in die Plantagen und vom Rauschen der am Ufer ausrollenden Wellen erwachte, konnte man sich wirklich einbilden, die Obstplantagen und der See seien Anfang und Ende der Welt und meine Familie und ihre Arbeiter die einzigen Bewohner. Anders in den Herbst- und Winterferien; dann war die Fahrt aufs Land eher eine Unterbrechung des Lebens in der Stadt mit seinen geregelten Schulstunden und dem zusätzlichen Nachmittagsunterricht. Aber es waren die mit Kürbissen oder Mistelzweigen dekorierten, reich gedeckten Tische, an denen mein Onkel mit Frau, Schwester, Bruder und Schwägerin als Publikum brillierte, langatmige, wortgewandte Reden schwang, die Geister

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