Der Schmetterlingsbaum
real. Es war, als könnte sie nichts anderes mehr empfinden als die Gefühle für ihn.
Das sei verrückt, sagte ich, sicher empfinde sie doch etwas für mich, für ihre Mutter, ihre Brüder? Und wer sei dieser Mann überhaupt? Was gebe er ihr? Weshalb akzeptiere sie so bereitwillig seine Verschlossenheit, seine Ambivalenz? Wieso steht er nicht zu dir, fragte ich. Zumindest das könnte er tun. Er muss dich doch lieben. Er ist seit Jahren mit dir zusammen.
Nein, ich glaube nicht, dass er mich liebt, sagte sie. Er hat es kein einziges Mal gesagt.
Mandy, die auf Urlaub nach Hause gekommen war, trug denselben Pyjama, den sie knapp zwei Jahrzehnte früher getragen hatte, zu der Zeit, als ihr Vater verschwunden war. Ob ihr das bewusst war?
Sie wandte sich vom Feuer ab, in das sie gestarrt hatte, während wir redeten, und sah mich direkt an. In ihrem Gesicht stand ein Ausdruck völlig hilfloser Erschöpfung und Trauer. Aber, sagte sie, sind nicht Menschen wie er, die tüchtigen und mächtigen, die Menschen, zu denen sich jeder hingezogen fühlt – sind sie nicht immer so was wie Ungeheuer? Sie sind eine Übertreibung, und deswegen wird auch alles an ihnen Übertreibung. Als Befehlshaber ist er beherrscht, streng, und dann zeigt er für einen Moment … nur einen kurzen Moment … ein Gefühl, und gleich rast dieser Moment wie eine Flutwelle durch die ganze Kompanie. Ich habe Menschen weinen sehen, nur weil er einmal schmerzerfüllt die Augen schloss.
Darüber ging ich erst einmal hinweg. Mandy, sagte ich, es ist genug. Du kannst so nicht weitermachen, du lässt dir dein ganzes Leben niederwalzen. Ich versuchte mich zu erinnern, wie viele Jahre das schon so ging. Fünf? Sechs?
Welches Leben? Ihre Stimme zitterte. Es ist wirklich absurd, aber authentisch fühle ich mich eigentlich nur, wenn ich mit ihm zusammen bin. Und das von einer Frau, die sterbende Kinder in den Armen gehalten, die Freunde und Kollegen im Gefecht verloren hatte, einer Frau, die alle Arten von genehmigten und ungenehmigten Waffen kannte und sich an jedem Tag ihres Berufslebens am Rand des Todes bewegte. Diese Aussage von dieser Frau. Aber sie kam, diese Aussage, auch von dem Mädchen, das ich gekannt hatte, das so liebenswürdig und umgänglich gewesen war. Jeder von uns hatte sich in ihrem Licht gesonnt – ihre Brüder, ihre Cousins, alle ihre Mitschüler. Und jetzt diese Soldaten, die sie nicht nur anbeteten, sondern auch brauchten. Gewiss sei darin ein Heilmittel zu finden, ein Gegengift, sagte ich. Daraufhin zitierte sie ein Gedicht von Emily Dickinson – über die Seele, die sich ihre Gesellschaft selbst aussucht, und sie schloss mit einer Zeile, die sogar mich beeindruckte. »Aus vielem Volk – sah ich sie wählen – Nur Einen – Danach – die Wahrnehmungsventile schließen – Wie Stein.« Mandy und ihre Gedichte, dachte ich. Was zum Teufel hat sie im Krieg verloren?
Sie drehte sich wieder zum Feuer. Dagegen – gegen ihn, sagte sie, bin ich vollkommen machtlos. Immer wieder schlang sie ihr langes blondes Haar um ihr Handgelenk. Sie hätte es abschneiden sollen, als sie im aktiven Dienst war, doch sie hatte sich durchgesetzt und trug es als Knoten am Hinterkopf, in einem Netz. Und ich weiß, dass er mich verlässt, fügte sie hinzu, sich jedenfalls drauf vorbereitet, langsam, Schritt für Schritt.
Warum, warum hast du dir das ausgesucht?, sagte ich zu ihr. Heute weiß ich, dass mein Tonfall der eines Menschen voller Verzweiflung war. Ich war fast wütend auf sie. Ich hätte nie wütend sein sollen.
Ich habe es nicht ausgesucht, sagte sie. Er hat mich ausgesucht. In dem Moment läutete ihr Mobiltelefon, und sie ging hinüber in den angrenzenden Raum, senkte den Blick auf den Holzboden und führte ein kurzes, intensives Gespräch. Aus Kandahar, vermutete ich. Offenbar waren die Absprachen für ihre Treffen so belastet und heimlich und tödlich wie jede verdeckte Militäroperation, mit der sie je zu tun gehabt hatte. Wie aufs Stichwort, dachte ich. Aber dann wurde mir klar, dass sie ohnehin die ganze Zeit an ihn dachte, wo immer sie war: Jedes Gespräch mit ihm käme wie aufs Stichwort. In ihrem Leben muss es verschiedene Bodenbeläge gegeben haben, die sie anstarren konnte – die Holzdielen zu Hause, den Asphalt der Rollfelder, den Linoleumboden der Truppenflugzeuge, die Fliesen des Flughafens Shannon, wo aufgetankt wurde, den heißen Staub von Afghanistan – hatte überall dort ihr Mobiltelefon geläutet?
Ich wollte wissen,
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