Der Schmetterlingsbaum
verloren außer an Teos Gesicht mir gegenüber, der Intensität seines Blicks. Die Tage wurden kürzer, und wir hatten nicht mehr viel Zeit.
Als wir am See entlanggingen, erzählte er mir von seinem Großvater.
»Ein alter Mann«, sagte er, »sehr alt. Und immer arm. Wir sind alle sehr arm.« Das Wort poor sprach er in zwei Silben aus. »Aber ein großer Mann«, fügte er hinzu, »Kämpfer für die Revolution.«
Und die revolution kam mit so viel Ungestüm aus ihm heraus, dass der Begriff elektrisiert und bedeutungsvoll für mich klang. Das war alles so weit entfernt von dem kleinen Reich, das ich kannte, dass mir nichts dazu einfiel.
»Wir haben beide keinen Vater«, sagte ich. »An meinen erinnere ich mich eigentlich gar nicht.«
»Nein.« Teo blieb einen Moment stehen. »Ich kann mich auch nicht erinnern. Aber meine Mutter sagt, er war ein guter Mann.«
Es freute mich, dass sich Teo nicht an seinen Vater erinnerte. Dadurch kam mir das, was zwischen uns entstand, noch wichtiger vor, noch weniger zufällig. Dass wir beide Halbwaisen waren, schuf eine Verbindung zwischen uns, die nie reißen konnte. »Und deine Schule?«, fragte ich.
»Da bin ich gut.« Er lächelte. »Ich werde das College für Landwirtschaft besuchen. Damit« – er deutete mit ausgestrecktem Arm zurück auf die Felder und Plantagen – »damit werde ich das Geld dafür verdienen.«
»Kommst du denn dann hierher zum Studieren?« Ich wusste jetzt ein bisschen mehr über sein Leben in einem Land, das ich noch zwei Wochen vorher ausschließlich mit Sombreros in Verbindung gebracht hatte und mit dem wenigen, das ich in der Grundschule im Zusammenhang mit den großen Entdeckern über ausgestorbene Indianerstämme gelernt hatte.
»Nein, nein, ich komme nicht hierher. Hier kann ich nur Arbeiter sein.« Wir hatten unsere Schuhe ausgezogen und gingen bis zur Kante des Wassers, wo der kühle See unsere Füße berührte. Ich musste an unsere Papierschiffchen denken, aber daran wollte ich ihn lieber nicht erinnern.
»Du tanzt mit deiner Mutter«, sagte ich.
»Ja«, sagte er, »wir tanzen. Sie hat es mir beigebracht, und manchmal tanzen wir für Touristen, für Geld.«
»Mit deiner Mutter?«
»Nein, sie war nur meine Lehrerin. Zu Hause tanze ich mit anderen jungen Leuten, die auch ihre Schüler waren. Wir haben eigene Kostüme. Und Schuhe.«
Bei diesen Tänzen machten zweifellos auch Mädchen mit, aber danach fragte ich nicht, die Vorstellung war ein bisschen verstörend. Natürlich war er ein begnadeter Tänzer: Dieser Tanz wäre elektrisierend, wie die Revolution, und mehr wollte ich darüber nicht wissen. Unterdessen waren wir am felsigen Teil unseres Uferstreifens angelangt. Ich stolperte, und er streckte die Hand aus und ergriff meinen nackten Oberarm, um mich aufzufangen. Der erste Herbstmond stand voll und hell am Himmel. Wir verfielen in Schweigen; als er seine Hand sinken ließ, trat ich einen Schritt vor und ging dann vor ihm her weiter das Ufer entlang. Wir umrundeten die Stelle, wo der ehemalige Kai aus Kalksteinplatten in den See hinaus ragt, und schließlich kamen wir zu einer weiten ebenen Fläche mit viel mehr Sand als in der Nähe des Hauses. Ein Baumstamm lag hier, auf dem man sitzen konnte, und davor waren noch die kalten, unvollständig heruntergebrannten Reste eines Lagerfeuers, das Shane oder Don irgendwann im Sommer hier gemacht hatten.
Teo wanderte im Mondlicht hin und her und bückte sich nach Feuerholz, und als er eine Handvoll Zweige beisammenhatte, warf er sie auf die verkohlten Scheite und zog eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche. Ich wusste, dass er manchmal zusammen mit den anderen Männern in der gemeinsamen Unterkunft rauchte, und ich sehe es noch vor mir – das Licht des brennenden Streichholzes im Schutz seiner gewölbten Hand; wie erwachsen und männlich mir dieser Anblick vorkam. Als das Feuer brannte, setzte er sich neben mich auf den Baumstamm, stützte die Arme auf die Knie und faltete die Hände. Vor der Helligkeit des Feuers hatte der Mond an Leuchtkraft verloren, und außerhalb des Rings aus Licht und Wärme war alles dunkler geworden. Teo begann leise zu summen, und dann sang er:
»La Chamuscada« le dicen ’onde quera,
porque sus manos la pólvora quemó,
entre las balas pasó la pelotera,
la »revolufia« sus huellas le dejó.
Ich wollte wissen, was die Worte bedeuteten.
»›La Chamuscada‹, Die Verbrannte. Ein Revolutionslied über eine Frau. Eine soldadera . Eine Kämpferin. Man
Weitere Kostenlose Bücher