Der Schmetterlingsbaum
worüber sie gesprochen hätten. Nichts, sagte sie. Meistens tauschen wir Höflichkeiten aus. Du weißt schon, sagte sie, das Übliche. Geht’s dir gut? Klappt es nächsten Donnerstag?
Das oder gar nichts, sagte sie. Manchmal läutete das Telefon nicht, und die Mails, die sie schickte, blieben unbeantwortet. Da waren ihr die Höflichkeiten lieber.
Selbstverständlich hätte sie alles für ihn aufgegeben, dachte ich, ihre Karriere, den Rest ihrer Familie, ihr Leben. Wieder und wieder bedrängte ich sie: Was ist mit dir , was ist mit deinem Leben ? Daraufhin sah sie mich immer nur an, mit blankem Trotz. Ich glaube, sagte sie einmal, dass er die Ursache ist, weshalb ich jedes auftretende Problem dort drüben lösen will. Ich weiß, es klingt wie ein Klischee, aber es ist, als hätte er so was wie eine Verabredung mit dem Schicksal … Du kannst dir nicht vorstellen, was dieser Einsatz für ihn bedeutet … und in den Momenten, in denen wir uns am nächsten sind, spüre ich etwas davon in mir selber. Ich habe Afghanen gesehen, die auf den zerfallenen Bruchstücken einer Gesellschaftsordnung, die wir für selbstverständlich halten, ein ganzes Leben aufbauen. Und seitdem ich das erlebt habe, weiß ich, dass ich um den winzigsten Splitter von ihm, um die Idee von ihm, vielleicht sogar die Erinnerung an ihn eine ganze Gefühlswelt errichten kann. Seinetwegen bin ich gut. Ihre Stimme senkte sich, und mit einem Anflug von Verlegenheit, wie mir schien, gab sie zu, dass sie sich bestätigt fühlte, wenn er bemerkte, dass sie auf die eine oder andere Weise Mut oder besonderes Verständnis für eine Situation bewiesen hatte. Im Einsatz agiere ich, als … als wäre er da und sähe mir zu, und das – tja, das ist es, was mich das alles durchstehen lässt.
Anerkennung, dachte ich, das eine, das sie von ihm nie in dem Maß bekommen wird, wie sie es braucht. Die Folge wird sein, dass sie immer höhere Risiken eingeht. Ihr Gesichtsfeld hatte sich so stark verengt, dass sie wie eine dünne, von einem Pfropfen aus Liebe und Krieg verstopfte Arterie war. Der Schlaganfall war absehbar. Ich habe ständig Durst in dieser gottverlassenen Gegend hier, hatte er einmal zu ihr gesagt. Ja, er sprach von Kandahar. Du kannst dir nicht vorstellen, wie heiß es dort ist. Wenn es nur zweiunddreißig Grad hat, ist es kühl.
Aber, sagte sie, er meinte damit nicht nur Hitze und Durst. Er meinte auch sie. Das war sie, die gottverlassene Gegend, glaubte sie; das war sie für ihn geworden.
Er sei älter als sie, hatte sie mir einmal anvertraut, fünf Jahre. Kein so großer Altersunterschied. Aber alt genug, um eine gewisse Verantwortung zu übernehmen, fand ich.
Sie widersprach mir. Er übernimmt ja Verantwortung, sagte sie. Er hält es geheim und schützt es. Und, fügte sie hinzu, er ist so zärtlich, wenn er mit mir zusammen sein kann.
Es war spätabends, und der Wind hatte sich gelegt; wenn man aus dem Fenster blickte, waren alle Details von der Dunkelheit verschluckt, nichts schien sich zu rühren. Dennoch konnte ich schwach den See hören, der den Kies am Ufer anschob und minimale Umschichtungen vornahm.
Was stimmt mit diesem Mann nicht? Er schützt sich und lässt sie über die Klinge springen, dachte ich, seelisch auf jeden Fall, vielleicht bis zu einem gewissen Punkt auch körperlich, und hatte damit wohl mehr recht, als ich ahnte. Sie war nicht geschützt, und sie überlebte nicht. Und insgeheim gab ich ihm die Schuld daran, ihm allein.
Einst glaubte ich, dass niemand außer mir je verstehen könne, wie sie litt, wie sie nicht imstande war, die Bande zu durchtrennen, die sie an ihn knüpften – ich stellte sie mir als schwere Eisenketten vor, aber für sie müssen sie wenigstens zeitweise golden gewesen sein. Und selbst heute kann ich die ganze Geschichte nur so verstehen, wie ich Schmetterlinge verstehe; ich weiß, was sie tun, aber weshalb sie es tun, könnte ich nicht erklären. Vielleicht zieht uns die Schönheit des Schwierigen an, oder die weitgehende Unzugänglichkeit heiliger Orte, die Willkür, die eine Spezies überleben lässt, während eine andere über Nacht verschwindet, eine großartig komplizierte Beziehung.
Mandy sagte einmal, ließe sie das Schwierige bleiben, verschwände auch ihr Glaube an die Lyrik und damit ihre Überzeugung, dass ihre Anwesenheit – und die Anwesenheit aller anderen – in diesem fernen Land am Ende doch irgendetwas Gutes bewirke. Sie sagte, dieser Glaube sei selbst eine Art Gedicht. Wie
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