Der Schnee war schmutzig
Arzt holte. Zu dieser Stunde darf man zwar noch nicht auf die Straße, doch das ist ihm wohl gleichgültig. Er hätte versuchen können, von unten anzurufen. Aber Frank hätte es genauso gemacht wie er. Die Ärzte kommen nicht gern zu so früher Stunde, besonders wenn man sie anruft.
Holst muß weit gehen. Im ganzen Viertel gibt es keinen Arzt mehr, außer einem alten bärtigen, der fast immer betrunken ist und zu dem niemand Vertrauen hat. Er hat fast nur noch Kassenpatienten.
Holst muß über die Brücke gehen. Er wird schließlich einen Arzt gefunden haben, denn gegen sechs Uhr hält ein Auto vor dem Haus. Ob es ein Krankenwagen ist? Ob man sie in ein Krankenhaus bringen wird? Frank läuft ans Fenster, versucht etwas zu erkennen, sieht aber nur die beiden Scheinwerfer.
Nur zwei Männer kommen die Treppe herauf. Wenn man Sissy fortschaffen würde, würden die Krankenwärter mit ihrer Bahre herauskommen.
Frank knipst das Licht aus, damit Holst nicht merkt, daß er wach ist. Vielleicht tut er es aus Scham, vielleicht auch weil es wie eine Herausforderung wirken würde. Jedenfalls tut er es nicht aus Angst. Er hat keine Angst vor Holst. Er wird nichts tun, um ihm aus dem Weg zu gehen. Im Gegenteil!
Der Arzt ist lange geblieben. Man hat im Ofen Kohle nachgelegt, hat gestochert und sicherlich wieder Wasser heiß gemacht. Ob Sissy ihre Handtasche dort gefunden hat, wo er sie hingelegt hatte? Hat sie seine Absicht verstanden? Wenn nicht, wird ihr Vater viele Gänge zu machen haben, um neue Lebensmittelkarten zu bekommen.
Der Arzt ist eine halbe Stunde geblieben. Wimmer hätte lieber fortgehen sollen, aber auch er ist geblieben. Er ist immer noch dort drüben. Erst um sieben geht er in seine Wohnung zurück.
Dann ist Frank endlich eingeschlafen. Er hat so fest geschlafen, daß er gar nicht gemerkt hat, daß man sein Bett in die Küche dicht an den Ofen schob und ihm eine Wärmeflasche auf die Füße legte.
Die Küche geht nicht auf die Straße. Das Tageslicht kommt nur durch das Guckfenster herein. Aber als er die Augen aufschlägt, weiß er dennoch, daß sich etwas verändert hat. Neben ihm bullert der Ofen. Er muß sich aufrichten, um den Wecker zu sehen, der elf Uhr zeigt. Im Zimmer nebenan hört er Bertas Stimme.
»Du solltest lieber liegen bleiben, Frank«, sagt Lotte, die herbeigeeilt kommt. »Wir haben dich nicht wecken wollen, sonst hätten wir dich in ein richtiges Bett gelegt. Aber du hast bestimmt Fieber.«
Er hat kein Fieber, er weiß es. Es wäre zu einfach, krank zu sein. Man kann ihm alle Thermometer der Welt in den Mund oder in den Hintern stecken.
Der Schnee fällt dicht und lautlos herab, so dicht, daß man kaum die Fenster des Hauses gegenüber sieht.
»Warum willst du dich nicht pflegen lassen?«
Er schweigt beharrlich.
»Komm, Frank.«
Als er aufgestanden ist und seinen Morgenrock angezogen hat, führt sie ihn in den Salon, wo der Teppich halb aufgerollt ist – man machte gerade rein –, und schließt alle Türen.
»Ich will dir keine Vorwürfe machen. Du weißt, ich habe dir nie Vorwürfe gemacht. Ich bitte dich nur, mich anzuhören. Glaub mir, Frank, es ist besser, wenn du dich heute nicht draußen zeigst, ja vielleicht ein paar Tage lang zu Hause bleibst. Ich habe Berta einkaufen geschickt. Man hätte sie beinahe nicht bedient.«
Er hört nicht zu, und sie versteht den Blick, den er in die Richtung von Hoists Wohnung wirft. Um ihn zu beruhigen, setzt sie hastig hinzu: »Es wird bestimmt nichts Schlimmes sein.«
Glaubt sie, er sei verliebt oder habe Gewissensbisse?
»Der Arzt ist heute morgen dagewesen. Er hat Sauerstoffflaschen holen lassen. Sie hat sich erkältet. Ihr Vater …«
Warum spricht sie nicht weiter?
»Ihr Vater? …«
»Er läßt sie nicht allein. Die Mieter haben sich zusammengetan, um ihr ein paar Kohlen zu bringen.«
Und dabei haben sie selber zwei Tonnen im Keller! Aber niemand wird von diesen Kohlen etwas haben wollen.
»Wenn sie wieder gesund ist, wird niemand mehr daran denken. Selbst wenn es eine Lungenentzündung wird, wie man sagt, dauert es nicht länger als drei Wochen. Hör auf mich, Frank, hör dies eine Mal auf deine Mutter!«
»Na und?«
»Heute abend oder noch besser heute nacht, da du einen Ausweis hast, von dem du mir zwar nichts gesagt hast, den aber alle gesehen haben …«
Der grüne Ausweis! Sie vermittelt den Offizieren der Besatzungsmacht blutjunge Mädchen, aber es entsetzt sie, daß ihr Sohn diesen grünen Ausweis hat. Da er ihn
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