Der Schnee war schmutzig
Augenblick sprang sie dann auf einen höheren Ast.
Der Fluß ist zugefroren, bis auf die Stelle, wo die Abwässer zusammenfließen, und diese Stelle ist nicht mehr fern.
Ein-, zweimal versucht er es noch. Vor Verzweiflung möchte er am liebsten weinen.
Die kleine abgenutzte Handtasche aus Wachstuch mit einem Taschentuch, Lebensmittelkarten, etwas Geld und dem Schlüssel darin wird für ihn zu einer fixen Idee.
Da er nicht weit von ihr entfernt sein kann und sie ihn sehen muß, sucht er sich die hellste Stelle aus und bleibt dort, die Handtasche in der hocherhobenen Hand, aufgereckt stehen. Ohne Angst, sich lächerlich zu machen, ruft er, so laut er kann: »Der Schlüssel.«
Er schwenkt die Handtasche. Er möchte sicher sein, daß sie ihn sieht und begreift. Möglichst sichtbar legt er die Handtasche in den Schnee und ruft wieder:
»Der Schlüssel … Ich lasse ihn hier liegen!«
Es ist für sie besser, wenn er verschwindet. Solange er hier herumstreicht, wird sie auf der Hut sein. Er stapft durch das freie Gelände und geht auf der schwarzen Spur zwischen Schneehaufen, die den Bürgersteig darstellt, weiter.
Er geht aber nicht zu Timo, dessen Lokal ganz in der Nähe ist. Er geht an der dunklen Sackgasse der Gerberei vorüber, ohne sie überhaupt zu bemerken. Als er ins Haus tritt, beobachtet ihn der Portier hinter seiner Gardine. Zweifellos weiß er schon Bescheid, und heute abend oder morgen früh wird es das ganze Haus wissen.
Er steigt die Treppe hinauf. Bei Herrn Wimmer brennt kein Licht. Er ist also noch nicht zurück.
Das Ganze beginnt ein graues chaotisches Durcheinander zu werden. Eine Stunde wird sich an die andere reihen. Es sind gewiß die längsten Stunden, die er je erlebt hat. Bisweilen möchte er schreien, wenn er auf den Wecker sieht und feststellt, daß die Zeiger immer noch auf der gleichen Stelle stehen.
Von all diesen Stunden wird dennoch so wenig übrigbleiben wie das bißchen Reisig, das aus der Asche am Herd herausragt.
Seine Mutter kommt zurück, und ihr Parfüm verbreitet sich sofort in der ganzen Wohnung. Sie sieht ihn nur eine Sekunde lang an, dann wendet er sich Minna zu. Minna macht ihr ein Zeichen, mit ihr in das große Zimmer zu kommen. Glauben sie etwa, daß er sie nicht flüstern hört? Minna soll ruhig alles erzählen. Sie wartet auch gar nicht auf seine Erlaubnis. Sie hält sich um seinetwillen dazu verpflichtet. Von jetzt an werden ihn die beiden Frauen beschützen wollen.
Es ist ihm gleichgültig.
»Ich möchte, daß du etwas ißt, Frank. Nur ein bißchen.«
Lotte ist darauf gefaßt, daß er nein sagt. Dennoch ißt er etwas. Er weiß nicht mehr, was, aber er hat etwas gegessen. Seine Mutter hat das Bett im hinteren Zimmer gemacht. Minna legt sich nicht wieder hin. Sie setzt eine Unschuldsmiene auf, sitzt in einem Sessel im Salon, möglichst nahe bei der Tür, und horcht.
Haben sie Angst vor Holst? Vor der Polizei? Vor dem alten Wimmer? Er lächelt verächtlich.
»Du kannst schlafen gehen, Frank. Dein Zimmer ist fertig. Oder möchtest du heute nacht lieber im großen Zimmer schlafen?«
Er ist nicht zu Bett gegangen. Er könnte aber nicht sagen, was er getan oder woran er gedacht hat. Bisweilen – und das ist das einzige, an das er sich erinnert – begannen die Gegenstände vor seinen Augen zu leben wie damals, als er klein war, ein kupferner Aschenbecher zum Beispiel, dessen Reflexe zu Blicken wurden, ein mit Stoff bezogener Schemel vor dem Ofen, auf den seine Mutter die Füße legt, wenn sie einmal dazu kommt, zu nähen.
Diese Stunden schienen gar nicht zu Ende gehen zu wollen. Dennoch sind sie zu Ende gegangen. Man hat ihm etwas zu trinken gegeben. Zitrone und Schnaps war darin. Man hat ihm auch andere Socken angezogen, und er hat sich Pantoffeln über die Füße streifen lassen. Sie haben von Berta gesprochen, die erst am nächsten Tag wiederkommen und versuchen wird, ein Stück Schweinefleisch und ein paar Würste mitzubringen.
Gegen acht Uhr ist Herr Wimmer allein zurückgekommen. Auch Mieter aus anderen Stockwerken sind nach Hause gekommen, und der Portier hat ihnen gewiß alles haarklein berichtet.
Vielleicht ist Sissy schon tot.
Der Straßenarbeiter sagte immer wieder, es sei besser, mit einem gut gezielten Schuß dem Leben der Katze ein Ende zu bereiten. Im Haus gibt es bestimmt Leute, die bei Sissy das gleiche denken. Andere würden, wenn sie es wagten, Frank gern niederschießen.
Aber auch das ist ihm gleichgültig.
»Warum gehst du nicht zu
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