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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Hätte sie nicht gewußt, daß er es sich verbeten hätte, wäre sie mit ihm gegangen.
    »Sie kommen doch gleich wieder, nicht wahr? Sie sind nicht auf dem Damm.«
    Die Tür gegenüber war geschlossen, und es schimmerte unten kein Lichtschein hindurch. Frank ging mit entschlossenem Gesicht, als wüßte er, wo er Sissy finden würde, die Treppe hinunter.
    Am Ende der Grüngasse biegt rechts eine Straße ab, die Straße, in der Timos Lokal liegt. Dahinter befindet sich das alte Bassin. Durch diese Straße erreicht man die Brücke, und dort ist man schon fast im Stadtzentrum mit seinen grell erleuchteten Geschäften und seinem Menschengewimmel.
    Wenn man aber nach links einbiegt, wie Frank es einmal mit Sissy getan hat, sieht man nur die Hinterfronten von Häusern und freies Gelände. Einige Teile des Bassins sind zugeschüttet, andere nicht. Man hat angefangen, hier ein Lehrerseminar zu bauen, aber durch den Krieg ist der Bau unterbrochen worden. Es steht nur ein riesiges Gerippe da, ohne Dach, mit Eisenträgern und halbhohen Mauern. Zwei Reihen noch ganz kleiner und dürrer Bäume, die durch Gitter geschützt sind, lassen erkennen, daß hier eines Tages eine Allee entlangführen soll. Aber dazwischen sind Schluchten, und der Weg hört plötzlich vor einer Sandgrube auf.
    Es war inzwischen dunkel geworden. Auf diesem ganzen Gelände brannte nur eine einzige Gaslaterne, die man vergessen zu haben schien, während jenseits des Wassers die Lichter eine fast ununterbrochene Girlande bildeten und Straßenbahnen vorüberfuhren.
    Er wußte, daß er sie wiederfinden würde, aber er wollte ihr keine Angst einjagen. Er hatte nicht vor, mit ihr zu sprechen, sondern ihr bloß den Schlüssel zurückzugeben. Weil Holst nicht vor Mitternacht nach Hause kommen würde und sie nicht ohne Strümpfe und ohne Geld draußen bleiben konnte.
    Genau an der Straßenecke kam er dicht an einem Mann vorüber; er war sicher, daß es Herr Wimmer war. Er wich unwillkürlich zurück und hatte Angst, denn wenn der Mann die Absicht hatte, ihn zu schlagen, hätte er sich nicht wehren können. Auch Herr Wimmer suchte gewiß Sissy. Vielleicht war er ihr eine Weile nachgegangen und hatte ihre Spur in dem freien Gelände verloren.
    Eine Sekunde lang berührten sich die beiden Männer fast. An dieser Stelle war es etwas heller. Man sah zwar den Mond nicht, aber er war hinter den Wolken und ließ die Umrisse erkennen. Ob Herr Wimmer die Handtasche gesehen hatte, die Frank immer noch in der Hand hielt? Hatte er an den Schlüssel gedacht und begriffen, was der junge Mann wollte?
    Jedenfalls ließ er ihn vorübergehen. Frank lief kreuz und quer und stolperte dabei über vereiste Schneehaufen. Dann blieb er plötzlich stehen.
    Er hätte am liebsten laut Sissys Namen gerufen, aber damit hätte er sie bestimmt verscheucht, und sie wäre nur noch weiter ins Dunkel hineingelaufen, oder hätte sich wie die schwarzweiße Katze in ein Loch verkrochen.
    Bisweilen hörte er, wie sich etwas rührte. Er stürzte zu der Stelle, fand aber nichts, hörte wieder Schritte in einer anderen Richtung, lief hin und stellte fest, daß es Herr Wimmer war, der fast den gleichen Weg wie er eingeschlagen hatte.
    Mehrmals brach er durch eine harte Eiskruste, und seine Beine blieben bis zu den Knien darin stecken.
    Da steht sie. Er hat sie gesehen. Er hat ihre Gestalt erkannt, aber nicht gewagt, ihr entgegenzulaufen, sie anzusprechen, zu rufen.
    Er hat nur die Handtasche hochgehalten, wie man der Katze den Milchnapf gezeigt hatte.
    Sie ist schon wieder weg. Sie ist im Dunkeln verschwunden, und erst in dieser Wüste des Schweigens ruft er mit einer Stimme, deren er sich schämt: »Der Schlüssel!«
    Er sieht sie noch einmal, als sie über einen Schneehaufen springt. Er rennt, stolpert und ruft von neuem: »Der Schlüssel!«
    Er will nicht ihren Namen aussprechen, um sie nicht zu verscheuchen. Er hätte die Handtasche Herrn Wimmer geben sollen, dem es vielleicht gelungen wäre, sie einzuholen. Er hat nicht daran gedacht. Herr Wimmer auch nicht. Hat der alte Nachbar wirklich mehr Chancen als er? Frank sieht und hört ihn nicht mehr. Herr Wimmer ist nicht mehr in dem Alter, um in diesem mit Fallen gespickten Gelände herumzulaufen. Sissy ist nicht weit weg, knapp hundert Meter. Auch der, der in Frau Porses Garten auf die Linde kletterte, ist ein paarmal mit der Hand bis auf ein paar Zentimeter an die Katze herangekommen. Alle glaubten, die Katze werde sich fangen lassen, aber im letzten

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