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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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verbracht hat, wußte er zum Beispiel nicht das Datum. Er wußte es, ohne es zu wissen. Er ist dessen aber nicht sicher, er weiß zwar, daß er achtzehn Tage hier ist; er könnte jedoch das Datum seiner Einlieferung nicht genau auf den Tag angeben. So lebt man.
    Höchstwahrscheinlich ist heute der 7. Januar. Vielleicht aber auch der 8. Für die Zeit, die ›davor‹ liegt, hat er keine festen Anhaltspunkte. Hier hat er seine Striche.
    Wenn er durchhält, wenn er sich nicht gehenläßt, wenn er sich genügend konzentriert – ohne sich jedoch allzu stark zu konzentrieren –, dann wird er bald begreifen, und dann ist alles klar. Das erinnert ihn an einen Traum, den er schon mehrmals gehabt hat. Es sind eigentlich mehrere Träume, aber der deutlichste ist der vom Fliegen. Er steigt in den Raum auf. Nicht unter freiem Himmel, auf der Straße oder in einem Garten, sondern in einem Zimmer, immer in Gegenwart von Zeugen, die nicht fliegen können. Er sagt ihnen zum Beispiel: »Seht doch, wie leicht das ist!«
    Er legt beide Hände flach auf die Leere und stützt sich darauf.
    Der Start ist mühsam und langwierig. Er muß seinen Willen stark anspannen. Sobald er in der Luft schwebt, braucht er aber nur noch kleine Bewegungen zu machen, bald mit den Händen, bald mit den Füßen. Sein Kopf berührt die Decke. Er versteht nie, warum die anderen darüber so verwundert sind. Er lächelt ihnen herablassend zu.
    »Ich sage euch doch, daß es ganz leicht ist. Man muß nur wirklich wollen.«
    Nun, hier ist es genauso. Wenn er es intensiv genug will, wird er begreifen. Er lebt unter schwierigen Bedingungen und hat sofort verstanden, daß man sich davor hüten muß, sich treiben zu lassen.
    Ein ganz kleines Beispiel: seine Ankunft hier. Es waren seine letzten Stunden, seine letzten Minuten draußen. Oder vorher. Er verwendet die beiden Bezeichnungen ohne Unterschied. Er hätte also von diesen Augenblicken eine geradezu mathematisch genaue Erinnerung behalten müssen. Er hat sie auch und bewahrt sie als etwas Kostbares. Aber es kostet ihn beständige Anstrengungen. Jeden Tag läuft er Gefahr, Einzelheiten zu ändern; er gerät in Versuchung, es zu tun; er zwingt sich dazu, die Ereignisse wieder einzeln vorzunehmen und ein Bild an das andere zu knüpfen.
    So ist es nicht wahr, daß Kamp vor seine Tür getreten ist oder daß die Stammgäste in seinem kleinen Lokal gelacht haben. Er war nahe daran, dies hinzuzufügen. Er hat fast daran geglaubt. In Wirklichkeit hat er aber niemanden gesehen, absolut niemanden, bis die wie gewöhnlich schwankende Straßenbahn vor ihnen hielt. Sie haben sich nicht angeblickt, um zu entscheiden, ob sie vorn oder hinten einsteigen sollten. Als hätte der Mann Franks Gewohnheiten gekannt und wollte ihm eine Freude machen, sind sie vorn eingestiegen.
    Frank rauchte seine Zigarette. Der andere hatte etwa das Viertel einer Zigarre im Mund. Er hätte es wegwerfen und Lust haben können, sich in den Wagen zu setzen. Aber Frank hat sich, seit er klein war und man ihn dazu zwang, nie in eine Straßenbahn gesetzt. Es hat ihn immer ohne Grund geängstigt.
    Der Mann ist auf der Plattform stehen geblieben. Diese Straßenbahn fährt über die Brücke, dann fast durch die ganze Oberstadt, und die Endstation befindet sich in einem Arbeiterviertel, das am Stadtrand liegt. Man ist dicht an militärischen Dienststellen vorbeigekommen, aber der Mann ist nicht ausgestiegen. Erst drei Straßen weiter hat er Frank ein Zeichen gemacht, und sie haben unter dem gelben Schild der Haltestelle auf eine andere Straßenbahn gewartet.
    Der Himmel strahlte. Es war an diesem Morgen, als ob die Stadt mit all ihren Fensterscheiben, ihrem Schnee und ihren weißen Dächern funkelte. Oder bildet er sich das nachträglich nur ein? Dennoch, da ist eine Einzelheit, die nicht trügt. Als sie auf die zweite Straßenbahn warteten, hat er seinen Zigarettenstummel in den Schnee fallen lassen. Gewöhnlich ist der Schnee hart und verharscht. Die Zigarette hätte also noch eine Weile brennen müssen, aber sie ist sofort ausgegangen, als hätte die Feuchtigkeit des von der Sonne beschienenen Schnees sie benetzt. Wenn er sich ungenauer ausdrückte, würde er sagen, daß sie mit einem Zischen in den Schnee gefallen sei.
    Auf solche Einzelheiten achtet er, weil es für ihn Marksteine sind. Hätte man solche Marksteine nicht, würde man sich gehenlassen, sich irgend etwas erdichten und es dann glauben.
    Die zweite Straßenbahn, die sie genommen haben, fährt,

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