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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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auch nur zum Opfer. Dennoch tat es ihm wohl, sich vorzustellen, wenn er abends durch die Straßen des Viertels ging, daß ihn plötzlich aus einer dunklen Ecke eine Kugel treffen könnte.
    Man kümmerte sich nicht um ihn. Nicht einmal Holst schien sich um ihn zu kümmern, und dennoch hatte Frank genug getan, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
    Sissy haßte ihn gewiß. Jeder andere an Franks Stelle hätte nach dem, was vorgefallen war, das Haus verlassen.
    Irgendwo lauerte das Schicksal. Aber wo? Statt abzuwarten, bis seine Stunde kam, ging Frank ihm entgegen und suchte überall nach ihm. Es war, als riefe er wie an jenem Tag, als er die Handtasche mit dem Schlüssel in dem freien Gelände hochhielt:
    »Hier bin ich! Worauf wartet ihr noch?«
    Er hatte nicht genug Feinde und tat deshalb alles, um sich welche zu machen. Hatte er nicht deswegen Berta geohrfeigt? Und jetzt, wenn Minna es wagte, sich zärtlich oder auch nur zuvorkommend zu zeigen, antwortete er, um sie zu verletzen: »Ein kranker Unterleib ist mir zuwider.«
    Er brachte Anny Schokolade, die sich aber weder dafür bedankte noch daran dachte, den anderen etwas abzugeben. Er betrachtete sie gern. Er hätte ihren Körper stundenlang betrachten können, aber es befriedigte ihn nicht, sich mit ihr zu vergnügen. Auch sie hatte kein Verlangen danach. Als er zum zweitenmal zu ihr ins Bett geschlüpft war, hatte sie mürrisch geseufzt: »Schon wieder?«
    Ihr Körper war ein Kunstwerk, aber sie hatte nichts als ihn. Er war außerdem wie aus Stein. Sie legte ihn so, wie man wollte, und schien dabei zu denken: Seht ihn euch an, streichelt ihn, macht, was ihr wollt, aber macht schnell.
    Am Donnerstag war Berta weggegangen. Am Freitag nachmittag um halb vier sah er den Mieter aus dem zweiten Stock auf der Straße vor einem Schaufenster stehen. Erst später war ihm eingefallen, daß es ein Korsettgeschäft war. Fast eine volle Stunde danach war er mit einem Mann namens Kropetzki, den er flüchtig kannte, zu Taste Kuchen essen gegangen. Ressl, der Chefredakteur, war auch gerade dort. Dieser luxuriöse Rahmen paßte zu ihm, und selten hatte Frank eine so gutgekleidete und so rassige Frau gesehen wie die mit der Ressl zusammen war.
    Ressl hatte ihm sogar zugewinkt. Frank und sein Bekannter hatten der Musik gelauscht. Taste ist das einzige Lokal, wo man bereits am Nachmittag um fünf Uhr Musik hören kann. Beim Anblick des Orchesters mußte er an den Geigenspieler denken, denn auch der Geiger hier war groß und hager.
    Hatte man den Geigenspieler erschossen? Die Leute fürchten so etwas immer, aber meistens sieht man die Totgesagten eines schönen Tages wieder heimkehren. Einige sprechen dann von Folterungen, aber das kommt selten vor. Oder schweigen die anderen aus Vorsicht?
    Wenn er an die Folter denkt, stockt ihm das Blut in den Adern. Dennoch hat er im Grunde keine Angst davor. Würde er es aushalten? Er ist davon überzeugt, daß er es könnte. Er hat so oft daran gedacht, daß der Gedanke ihm vertraut geworden ist. Schon als Kind machte es ihm Spaß, sich weh zu tun, sich zum Beispiel, während er vor dem Spiegel stand, mit einer Nadel in die Haut zu stechen und dabei die Zuckungen auf seinem Gesicht zu verfolgen. Man wird ihn nicht foltern. Man wird es nicht wagen. Warum sollte man ihn auch foltern, da er doch nichts aussagen kann? In wenigen Tagen ist Weihnachten. Wieder einmal kein richtiges Weihnachten. Außer in seiner frühesten Kindheit hat er nie ein richtiges Weihnachten erlebt. Mit sieben oder acht Jahren war er ein paarmal um diese Zeit in der Stadt. Die Straßen waren heller erleuchtet als ein Tanzsaal. Frauen und Männer in Pelzen drängten sich auf den Gehsteigen, und die Schaufenster barsten fast von der Fülle der ausgestellten Waren.
    Wie in den anderen Jahren wird man bei Lotte im Salon einen kleinen Baum aufstellen. Man tut das vor allem der Kunden wegen. Wer wird wohl über Weihnachten dableiben? Minna hat sicherlich Angehörige. Wenn die Mädchen sich auch sonst wenig um ihre Verwandtschaft kümmern, sobald ein Fest vor der Tür steht, erinnern sie sich plötzlich ihrer. Von Anny weiß man nicht einmal, wo sie zu Hause ist. Vielleicht bleibt sie da. Vermutlich wird sie sich damit begnügen, sich vollzufressen und sich dann wieder auf ihre Illustrierten zu stürzen.
    Sogar Kromer fährt Weihnachten nach Hause. Es ist etwa dreißig Kilometer weg.
    Sissy wird noch im Bett liegen. Holst wird sein letztes Geld ausgeben, wenn er überhaupt noch

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