Der Schnee war schmutzig
Kragen und einer schlecht gebundenen Krawatte.
Es war ein kleiner Mann mittleren Alters wie jene in den Büros, die Lebensmittelkarten, Kohlenscheine und ähnliches ausstellen. Er trug eine Brille mit starken Gläsern und schien mit Ungeduld auf die Zeit des Mittagessens zu warten.
Da ist wieder eine entscheidende Frage:
Hat man sich geirrt oder nicht?
Timo hat so getan, als wären sie wie alle anderen, als ob man in einem ihrer Büros gar nichts von dem wisse, was in dem Nachbarbüro vorgeht. Auf der Lebensmittelkartenstelle haben die Leute, die sie gar nicht verlangten, irrtümlich zwei Karten statt einer bekommen, während es anderen nicht gelang, Ersatz für eine verlorene Karte zu erhalten.
Es ist ernst. Man darf sich nicht verwirren lassen, aber man muß diese Möglichkeit ebenso sorgfältig ins Auge fassen wie die anderen. Man darf auch nicht vergessen, daß es Essenszeit war, daß der Chef Hunger hatte und es ihn verstimmte, daß der Vorgänger ohnmächtig geworden war.
Dennoch ist es unmöglich, etwas Bestimmtes aus seinem Verhalten zu folgern. Hat er sich dazu herabgelassen, Frank anzusehen? Kannte er ihn schon? Hatte er eine Akte vor sich liegen?
Als Frank im Nebenzimmer auf der grauen Bank wartete, mußten sie zu fünft in dem Büro gewesen sein, denn jetzt waren sie nur noch zu dritt. Der Chef saß, und die beiden anderen standen, von denen der eine noch blutjung – jünger als Frank – und geschmacklos angezogen war.
Frank hat sofort seinen grünen Ausweis, den er seit einer halben Stunde bereithielt, vorgezeigt. Er hat ihn den ganzen Weg über, in der Straßenbahn, in der Tasche gefühlt. Wenn Timo recht hätte, hätte der Chef die Achseln zucken oder grinsen müssen.
Er hat aber den Ausweis genommen, ohne einen Blick darauf zu werfen, und ihn neben sich auf einen Stoß Akten gelegt. Währenddessen durchsuchten die anderen seine Taschen, aber nicht brutal.
Man sagte kein Wort. Man fragte ihn nichts. Der, der ihn hergebracht hatte, stand in der Tür, schien ihn jedoch nicht besonders zu überwachen.
Der Chef schien an etwas anderes zu denken, schien eine Akte zu studieren, die Frank nicht betraf, und ließ ohne Neugier den Inhalt von Franks Taschen mitsamt dem Banknotenbündel sich auf eine Ecke seines Schreibtisches anhäufen.
Als die Durchsuchung beendet war, hob er den Kopf, als ob er fragen wollte: »Seid ihr soweit?«
Da erinnerte sich der Polizeibeamte an eine Einzelheit und legte den Revolver auf den Schreibtisch.
»Ist das alles?«
Der Chef stieß einen leisen Seufzer aus und griff nach einem langen Formular mit vorgedruckten Worten und weißen Stellen zum Ausfüllen.
»Frank Friedmaier?« fragte er wie nebenbei.
Er schrieb den Namen in Druckschrift auf das Blatt; dann dauerte es fast eine Viertelstunde, denn in eine besondere Spalte trug er alles ein, was in Franks Taschen gewesen war, ohne auch nur eine Streichholzschachtel oder einen Bleistiftstummel zu vergessen.
Man behandelte Frank nicht brutal. Niemand kümmerte sich um ihn. Wenn er zur Tür hinausgestürzt und auf die Straße gerannt wäre, hätte vermutlich nur der Posten auf ihn geschossen und ihn verfehlt.
Ist es so lächerlich, an eine Probe zu denken? Warum sollten sie den grünen Ausweis Leuten geben, die sie nicht kennen und deren sie nicht sicher sind?
Warum hat man ihn nicht geschlagen wie den anderen? Aber hat man den anderen wirklich geschlagen? So etwas kann eigentlich in einem Büro, dessen Tür jedem offensteht, nicht passieren.
Er hat achtzehn Tage darüber nachgedacht. Er hat unheimlich viel nachgedacht. Aber nicht nur darüber. Er hat auch Zeit gehabt, an Weihnachten, an Neujahr, an Minna, an Anny, an Berta zu denken. Sie würden alle sehr erstaunt sein, auch Lotte, wenn sie wüßten, was er alles beim Nachdenken über sie entdeckt hat. Das Nachdenken ist aber der Nachbarn wegen nicht leicht, denn hier gibt es ebenso Nachbarn wie in der Rue Verte. Jawohl, Herr Holst, jawohl, Herr Wimmer! Der einzige Unterschied ist der, daß man sie hier nicht sieht und ihnen darum noch weniger traut als anderswo.
Schon am ersten Tag haben sie versucht, mit ihm in Verbindung zu treten, aber er war auf der Hut. Er ist vor allem auf der Hut. Er ist im Begriff, der mißtrauischste Mensch der Welt zu werden. Wenn seine Mutter ihn besuchte, würde er sich fragen, ob sie nicht von der Besatzungsmacht geschickt worden sei.
Die Nachbarn klopfen an die Wände, die Wasserleitungen und Heizkörper. Die Heizung funktioniert
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