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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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dadurch nur aufrichtiger gegen sich selbst geworden.
    Das Erlebnis hat in ihm die Neugier geweckt. Er hat sich zunächst gedacht: Ob es wahr ist, daß man sie splitternackt auszieht?
    Gleich wird er wahrscheinlich an die Reihe kommen. Warum denkt er plötzlich an Minnas Unterleib? Weil man erzählt, daß sie einem mit den Füßen oder mit den Knien gegen die Genitalien treten. Er wird blaß bei dem Gedanken. Dennoch gibt der Kerl in dem anderen Zimmer nicht nach. In den Augenblicken, da es ganz still ist, hört man seinen ein wenig pfeifenden Atem.
    »Behauptest du immer noch, es nicht gewesen zu sein?«
    Wieder ein Schlag. Mit etwas Übung muß man nach dem Geräusch erraten können, welcher Körperteil den Schlag bekommen hat. Jetzt folgt eine wahre Lawine von Schlägen. Dann hört man ein dumpfes Stöhnen und darauf nichts mehr.
    Nichts als ein paar in vorwurfsvollem Ton in einer fremden Sprache gesprochene Worte.
    Ist das alles absichtlich für ihn inszeniert worden? Er muß es herausbekommen. Gewiß, es ist schwer zu glauben. Er denkt nicht mehr wie die Leute draußen, aber er denkt auch noch nicht wie seine Mitgefangenen. Er bemüht sich, einen klaren Kopf zu behalten und alles im richtigen Verhältnis zu sehen. Er ist sicher, daß er es schaffen wird. Sie werden ihn nicht kleinkriegen.
    Zumal da das vielleicht nur eine Probe ist. So könnte man nicht zu Lotte sprechen, auch nicht zu Kromer, nicht einmal zu Timo. Er hat schon einen weiten Weg zurückgelegt, seit er sie nicht mehr gesehen hat. Sie dagegen sind die gleichen geblieben, sie führen ihr kleines Leben weiter, denken immer noch das gleiche und kommen darum auch nicht voran.
    Er möchte lächeln, wenn er sich an das erinnert, was ihm Timo über den grünen Ausweis und die Abteilung gesagt hatte.
    Ist Frank jetzt in einer Abteilung oder nicht?
    Ist es eine wichtige Abteilung?
    Wenn Timo durch die Straße käme und das Gitter mit dem Wachtposten sähe, würde er nichts ahnen. Man muß die Dinge von innen sehen, und er, Frank, ist drinnen. Wird man anerkennen, daß er drinnen ist?
    Er gibt gern zu, daß etwas Wahres an Timos Worten war. Aber Timo war sich dessen nicht bewußt, er sprach nur so wie einer, der draußen steht. Der grüne Ausweis existiert. Wenn man ihn ausgestellt hat, muß er auch seine Bedeutung haben. Und wenn er seine Bedeutung hat, ist es nicht weniger wichtig, daß man ihn nicht verbummelt.
    Früher mußte man, um ein einfacher Freimaurer zu werden, wie es alle Beamten waren, sich Proben unterziehen.
    Das hat Timo nicht verstanden. Daran haben weder er noch Frank noch die anderen gedacht. Nicht dieses Gedankens wegen ist Frank ruhig – er würde sich sonst verachten –, aber er verbringt jeden Tag eine bestimmte Zeit damit, diesen Gedanken ins Auge zu fassen, ihn von allem Überflüssigen zu befreien, gewisse Aspekte der Frage zu vertiefen.
    Warum hat sich bei ihm, als man ihn in das Büro hineingeführt hat, nicht alles so abgespielt wie bei seinem Vorgänger? Den haben zwei Männer fortgeschafft; der eine hielt ihn am Kopf, der andere an den Füßen. Denn er hatte genug, vielleicht mehr als genug. Man wird zu schnell und ungestüm vorgegangen sein. Der Chef ist damit nicht zufrieden. Das, was er mit tonloser Stimme gesagt hat, wobei er mit einem Brieföffner auf den Tisch schlug, sollte gewiß heißen: »Der Nächste.«
    Franks Begleiter ist aufgestanden und hat seinen Zigarrenstummel in die Westentasche gesteckt. Auch Frank hat sich ganz ungezwungen erhoben.
    War er in diesem Augenblick etwa davon überzeugt, daß er wenige Minuten später als freier Mann weggehen und die Straßenbahn in umgekehrter Richtung nehmen würde?
    Er weiß es nicht mehr genau. Es gibt Fragen, die er sich schon allzuoft gestellt hat und die mit jedem Tag komplizierter werden. Es gibt einige, die er sich für den Vormittag vorbehält, und andere für den Nachmittag, für den Sonnenaufgang oder für den Sonnenuntergang, für die Zeit vor oder nach dem Essen. Auch das ist eine Disziplin, der er sich strikt unterwirft.
    »Kommen Sie.«
    Hat der Mann gesagt: Kommen Sie? Wahrscheinlich nicht. Er hat nichts gesagt. Er hat Frank nur ein Zeichen gemacht, um das Pult herumzugehen, oder er hat ihm den Weg gezeigt, indem er vorging.
    Und dann ist es geradezu lächerlich geworden. Der Chef, vor dem er erschien, sah gar nicht nach einem Chef aus, genausowenig wie der alte Wimmer. Er trug keine Uniform, sondern einen grauen Anzug mit einer zu engen Jacke, einem zu hohen

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