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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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nur dort hinaufführen kann.
    Jedenfalls wird Frank aus diesem oder jenem Grund anders behandelt als die gewöhnlichen Gefangenen. Er hat sich nicht getäuscht, als ihm die – zwar kühle – Höflichkeit des Chefs aufgefallen ist.
    Rechts nebenan befinden sich mindestens zehn Gefangene, bisweilen auch mehr. Man weiß es nie genau, denn es gibt dauernd Veränderungen. Links sind drei oder vier, von denen der eine krank oder irre ist.
    Es ist keine Zelle, sondern ein Klassenzimmer. Wozu diente es während der Schulzeit? Keiner großen Klasse, wahrscheinlich einer vom letzten Schuljahr. Für eine Klasse ist das Zimmer klein, aber für eine Zelle ist es groß, keineswegs auf eine Person zugeschnitten. Es stört ihn, er weiß nicht, wohin mit sich. Sein Bett wirkt in diesem Raum winzig klein. Es ist ein Eisenbett der einstigen Armee ohne Sprungfedern, mit Brettern als Matratze. Die grobe graue Decke riecht nach einem Desinfektionsmittel.
    Das ekelt ihn mehr, als wenn sie nach Schweiß und noch Schlimmerem röche. Dieser Chemikaliengeruch läßt ihn an eine Leiche denken. Vermutlich werden die Decken nur dann desinfiziert, wenn derjenige, der sie benutzt hat, tot ist. Und in diesem Raum sind bestimmt Menschen gestorben. Einige Inschriften sind sorgfältig ausgelöscht worden. Man sieht noch Herzen mit Anfangsbuchstaben wie an Bäumen auf dem Land, Fahnen, die man nicht mehr deutlich erkennen kann, aber vor allem die Striche, mit denen man die Tage markiert hat, mit einem Querstrich für die Wochen.
    Es war schwierig, noch eine unbenutzte Stelle für seine eigenen Striche zu finden, und er ist jetzt bereits bei dem dritten Querstrich.
    Er antwortet nicht auf die Botschaften. Er hat beschlossen, sie nicht zu beantworten, ja, nicht einmal zu versuchen, sie zu verstehen. Tagsüber geht ein Soldat auf dem Gang auf und ab, preßt bisweilen sein Gesicht an die Scheiben. Nachts verläßt man sich auf die Scheinwerfer, und man hört kaum Schritte.
    Da es früh dunkel wird, setzt bald ein großer Lärm ein. Die Wände und die Wasserleitungen erdröhnen. Frank versteht nichts davon. Es bedürfte nur einiger Mühe und Geduld. Es muß so etwas wie ein vereinfachtes Morsealphabet sein. Ihn interessiert es aber nun einmal nicht. Er ist allein. Um so besser. Man hat ihm die Vergünstigung gewährt, ihn allein zu lassen, und das muß eine Bedeutung haben. Übrigens hat er schon Erfahrung genug, um daran zu zweifeln.
    Aus dem Raum rechts nebenan, in den unaufhörlich Neue gebracht werden, werden, wenn auch nicht jeden Tag, aber doch mehrmals in der Woche, einige erschossen. Es ist das Zimmer, in das man alle wahllos hineinsteckt, und man könnte fast glauben, sie holten sich daraus aufs Geratewohl welche wie Fische aus einem Teich.
    Das geht immer kurz vor der Morgendämmerung vor sich. Ob sie schlafen können? Oft hört man manche mitten in der Nacht wimmern oder einen lauten Schrei ausstoßen. Wahrscheinlich sind es die ganz jungen.
    Zwei Soldaten kommen vom Hof, immer zwei, und ihre Schritte hallen laut auf der Eisentreppe und dann in dem Gang. Anfangs fragte sich Frank jedesmal, ob er jetzt an der Reihe sei. Aber nun achtet er gar nicht mehr darauf. Die Soldaten machen vor dem Nebenzimmer halt. Vielleicht sind unter den dort Eingesperrten welche, die hier zur Schule gegangen sind.
    Alle fangen dann an, aus vollem Hals ein patriotisches Lied zu grölen, und kurz darauf sieht man undeutlich in der Dämmerung die Soldaten mit zwei oder drei Männern vorübergehen.
    Wenn sie es absichtlich tun, ist es genau berechnet. Die Stunde ist so gut gewählt, daß Frank kein einziges Mal die Züge eines Gesichts, sondern nur Gestalten hat erkennen können. Männer, die die Hände auf dem Rücken halten und trotz der Kälte ohne Mantel und Hut sind. Aber alle haben sie den Kragen ihrer Jacke hochgeschlagen.
    Man wird sie wohl noch einmal in ein Büro führen, denn es vergeht noch einige Zeit, und der Tag bricht schon an, wenn man die Schritte auf dem Hof hört. Die Erschießung geht dicht neben dem überdachten Teil des Schulhofs vor sich.
    Wenn er zwei bis drei Meter näher wäre, könnte Frank es durch das Fenster sehen, aber er sieht nur einen Teil von dem Offizier, der das Hinrichtungskommando befehligt.
    Er kann dann wieder einschlafen. Denn man läßt ihn schlafen. Er weiß nicht, wie es in den anderen Räumen ist. Sicherlich anders, man hört dort nämlich immer schon in aller Frühe Lärm. Ihn läßt man in Ruhe, bis man ihm das Frühstück

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