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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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sondern in eine Schule gesteckt. Dies war sein letzter Gedanke gestern, bei dem er automatisch heute wieder anknüpft. Es ist eine Art Sport. Man gewöhnt sich schnell daran. Die Feder schnappt ein, und das Räderwerk bewegt sich von allein wie in einer Uhr. Man tut dieses und jenes. Man vollführt immer zur gleichen Zeit die gleichen Bewegungen, und sobald man darauf achtet, merkt man, daß man weiter grübelt.
    Die Schule hat an sich nichts Bedrückendes, und wenn es nach Timos Worten Abteilungen gibt, muß sich Frank in einer gewichtigen befinden, denn fast jeden Tag werden hier Menschen erschossen. Etwas beunruhigender ist vielleicht, daß man sich weiterhin überhaupt nicht um ihn kümmert oder jedenfalls so tut.
    Man hat ihn nicht verhört und verhört ihn noch immer nicht. Man belauert ihn nicht. Wenn man das täte, würde er es merken. Man läßt ihn allein. Man kümmert sich nicht einmal um seine Wäsche, die er seit neunzehn Tagen auf dem Leib hat. Kein einziges Mal hat er sich richtig waschen können, weil man ihm nicht genug Wasser bringt.
    Er grollt ihnen deshalb aber nicht. Da sich darin keine Mißachtung kundzutun scheint, ist es ihm gleichgültig. Er ist nicht rasiert. Andere in seinem Alter haben noch keinen starken Bartwuchs, aber er hat aus Spaß schon sehr früh damit begonnen, sich zu rasieren. Ehe er hierher kam, rasierte er sich jeden Tag. Sein Bart ist bereits über einen Zentimeter lang. Anfangs war er hart, aber jetzt fühlt er sich weich an.
    Es gibt ein richtiges Gefängnis in der Stadt, das sie natürlich für ihre Zwecke benutzen und das gewiß voll belegt ist. Sie werden dort aber nicht unbedingt die interessantesten Täter unterbringen.
    Nichts beweist, daß man sich über ihn lustig macht. Die Wächter sprechen zwar nie mit ihm, aber ihm ist klar, sie tun das nur deshalb nicht, weil sie seine Sprache nicht verstehen. Auch die Gefangenen, die ihm seine Kanne Wasser bringen und seinen Kübel leeren, sprechen nicht mit ihm.
    Sie gehen hin und her. Manche sind rasiert und haben kurzgeschnittenes Haar, was ein Zeichen dafür ist, daß es einen Friseur in der Schule gibt. Wenn man ihn nicht wie die anderen zu ihm führt, braucht das nicht zu bedeuten, daß man ihn vergessen hat. Bedeutet das nicht vielmehr, daß er ein besonderer Fall ist?
    Es muß ihn jemand denunziert oder angezeigt haben. Er geht die Namen durch, überlegt, was der oder jener getan oder gesagt hat, denkt über alle Möglichkeiten nach. Es ist ihm immer noch peinlich, sich auf seinen Kübel zu hocken, da das Fenster so groß ist, daß man vom Gang her alles sehen kann. Es macht ihm aber nichts aus, daß er nicht rasiert ist, daß seine Wäsche schmutzig ist, daß der Anzug, in dem er schläft, zerknittert ist.
    Die anderen sind um neun Uhr zum Spaziergang hinuntergegangen. Man scheint sie absichtlich so früh hinunterzuführen, damit sie frieren, zumal einige keinen Mantel haben. Warum wartet man nicht bis elf oder zwölf, wenn die Sonne die Luft schon etwas gewärmt hat?
    Nun, es geht ihn nichts an, da er ja nicht hinuntergeht. Wenn er hinunterginge, sähe er nicht ein wenig später das Schauspiel durch das Fenster.
    Das Räderwerk ist in Gang gekommen, und dennoch beginnt er von neun Uhr an zu warten. Was er sieht, ist ganz unwichtig. Wenn er in einem richtigen Gefängnis säße, gäbe es auch diesen winzigen Kontakt mit der Außenwelt nicht. Vermutlich hat niemand an dieses Fenster gedacht. Es ist unvorsichtig, daß man keine Maßnahme dagegen getroffen hat, denn das Fenster könnte eine wichtige Rolle spielen.
    Über die Aula oder Turnhalle hinweg spürt man auf der anderen Seite des Hofes eine Leere. Vielleicht ist es eine Straße mit niedrigen Häusern, Einfamilienhäusern, wie es die meisten in diesem Viertel sind. Ein ganzes Stück weiter entfernt erhebt sich die Hinterfront eines mindestens dreistöckigen Gebäudes, das von der Aula aus fast völlig verdeckt wird. Nur ganz oben sieht man ein einziges Fenster. Dort müssen ziemlich arme Leute wohnen.
    Jeden Morgen kurz vor halb zehn öffnet eine Frau, die einen Morgenrock trägt wie Lotte und ein helles Tuch um den Kopf gebunden hat, das Fenster und schüttelt Decken und Bettvorleger aus.
    Aus der Ferne kann man ihre Züge nicht erkennen. Aber ihre schnellen straffen Bewegungen lassen vermuten, daß sie noch jung ist. Trotz der kalten Jahreszeit läßt sie das Fenster eine ganze Weile offenstehen, während sie hin und her geht und auf irgend etwas in dem Zimmer

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