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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Einmal hat er an den Bewegungen der Frau erraten, daß sie bügelte. Ein andermal – wahrscheinlich hat sie einen der wärmeren Tage für den Hausputz genutzt – stand das Fenster mehr als zwei Stunden offen. Vielleicht hatte sie die Wiege in ein anderes Zimmer gestellt oder das schlafende Baby gut zugedeckt. Sie hat Kleidungsstücke, auch Männersachen, ausgeklopft. Sie hat sie geschüttelt und geklopft, wie man es mit Bettvorlegern macht, und jede ihrer Bewegungen tat Frank zugleich sehr weh und wohl.
    Von weitem sieht die Frau nicht größer aus als eine Puppe. Auf der Straße würde er sie nicht wiedererkennen. Aber das ist auch gleichgültig, denn dazu wird sich nie eine Gelegenheit bieten. Sie ist nur eine Puppe. Ihre Gesichtszüge sind nur verschwommen zu sehen. Aber es ist eine Frau, die mit ihrem Haushalt beschäftigt ist. Mit welchem Eifer sie arbeitet! Er fühlt es, er errät es.
    Um ihretwillen liegt er schon morgens auf der Lauer. Eigentlich müßte er um diese Zeit tief schlafen. Am Anfang hatte er Angst, sie zu verpassen, aber er hat sie nur einmal verpaßt, und da war er wirklich am Ende seiner Kräfte. Außerdem hatte er damals noch nicht gelernt, über seinen Schlaf zu gebieten.
    Sie ahnt es nicht und wird es niemals ahnen. Sie ist keine reiche Frau. Nach der Wohnung, in der sie lebt, zu urteilen, ist sie sogar arm. Sie hat einen Mann und ein Kind. Der Mann geht vermutlich schon früh zur Arbeit, denn Frank hat ihn nie gesehen. Tut sie ihm sein Mittagessen in eine Blechdose, ähnlich der, die Holst immer mitnahm? Wahrscheinlich. Und gleich darauf begibt sie sich zu Hause an die Arbeit. Manchmal singt sie gewiß auch und lacht mit dem Baby. Denn Babys weinen nicht nur, wie seine Pflegemutter ihm weismachen wollte.
    »Wenn du weintest …«
    »An dem Tag, da du soviel weintest …«
    »An dem Sonntag, da du so unausstehlich warst …«
    Nicht ein einziges Mal hat seine Pflegemutter zu ihm gesagt: »Als du lachtest …«
    Und das Bett, das nach zwei Menschen riecht. Sie weiß es nicht. Wenn sie es wüßte, würde sie nicht die Laken und die Decken zum Lüften aus dem Fenster hängen. Sie würde nicht einmal das Fenster öffnen. An ihrer Stelle würde Frank alles verschließen, alles behüten. Er würde nichts von ihrer beider Leben nach außen dringen lassen.
    Jener Morgen, da sie großen Hausputz machte, ist ihm so außerordentlich erschienen, daß er bei dem Gedanken zögerte, das Schicksal könnte ihm noch solche Freuden gewähren. Dort feierte sie auf ihre Weise den falschen Frühling, lüftete, reinigte und putzte. Sie war schön! Er hat sie nie aus der Nähe gesehen, aber das macht nichts: sie war schön! Und irgendwo in der Stadt gibt es einen Mann, der morgens mit der Gewißheit fortgeht, abends diese Frau, das Kind in seiner Wiege und das Bett mit ihrer beider Gerüche vorzufinden.
    Es ist gleichgültig, was dieser Mann tut und denkt. Es ist auch gleichgültig, daß die Frau aus der Ferne an ihrem Fenster so klein wirkt wie auf einer Marionettenbühne. Frank lebt ihrer beider Leben am intensivsten, selbst dann, wenn er auf dem Bauch liegt und nur ein Auge riskiert, denn wenn sie merken würden, was ihn so leidenschaftlich beschäftigt, würden sie seinen Stundenplan ändern.
    Er kennt sie. Hat nicht Timo behauptet, sie zu kennen? Von der Wahrheit hatte Timo allerdings nur Fetzen erhascht, vielmehr Allerweltswahrheiten, wie man sie in den Zeitungen liest.
    Als Frank klein war, brachte ihn seine Pflegemutter, Frau Porse, in Wut, wenn sie sagte: »Du hast dich wieder mit dem Hans geprügelt, weil …«
    Aber ihr ›weil‹ war immer falsch … Weil Hans der Sohn eines Großbauern war, weil er reicher war … weil er stärker war … weil … weil …
    Sein Leben lang hat er sich Leute mit ihren ›weils‹ täuschen sehen. Lotte als erste! Lotte, die von allen am allerwenigsten verstanden hat.
    Es gibt kein ›weil‹. Das ist ein Wort für Dummköpfe, für die Leute draußen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn man ihm mit der Begründung ›weil‹ eines Tages einen Orden verleihen würde, den er nicht verdient hat, vielleicht sogar erst nach dem Tod.
    Weil was?
    Warum hat er dem Offizier nicht geantwortet, der ihm den Rauch seiner Zigarre ins Gesicht blies, als er im obersten Stockwerk des Gebäudes der Militärverwaltung vernommen wurde? Er war kein größerer Held als irgendein anderer.
    »Du wirst es wissen müssen, Friedmaier.«
    Diese Geschichte von den Banknoten mit den kleinen Lochern

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