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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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einen bestimmten Schritt auf der eisernen Treppe zu lauern.
    Er ist ein Meister in diesem Spiel geworden. Was heißt übrigens Spiel? Es ist das Leben. In der Schule sagt man: »Er ist gut in Mathematik.«
    Nicht er war damit gemeint, sondern ein Kamerad mit klugem Kopf.
    Frank ist jetzt ein Meister des Lebens. Er versteht es, sich auf die Bretter zu pressen, das Gesicht in seiner Jacke zu vergraben, die Augen zu schließen, in den Tiefen des Schlafes zu versinken, Ballast abzuwerfen, unterzutauchen oder wieder an die Oberfläche zu kommen, ganz nach Belieben oder jedenfalls fast. Irgendwo gibt es Tage, Stunden, Minuten. Aber nicht hier und nicht für ihn.
    Das alles wirkt verrückt, aber er ist nicht verrückt geworden. Er ist immer noch bei klarem Verstand und fester denn je entschlossen, sich nicht gehenzulassen. Er hat sogar Fortschritte gemacht. Wozu zum Beispiel soll man sich um die Zeit kümmern, wie sie draußen verstreicht, in einem Haus, in dem sich nichts nach ihr richtet?
    Wenn man einen Kuchen in vier Teile schneidet und man ein Leckermaul ist, dann denkt man nur an die Viertel. Aber wenn man ihn in hauchdünne Scheiben oder in Würfel schneidet?
    Man muß alles erst lernen, angefangen mit dem Schlafen. Da bilden sich die Menschen ein, sie verständen zu schlafen! Weil sie, wenn es ihnen gefällt, für den Schlaf nur allzuviel Zeit haben. Es gibt welche, die jammern darüber, Sklaven ihres Weckers zu sein, obwohl sie ihn selber beim Schlafengehen stellen und manchmal aus dem Halbschlaf auffahren, um sich zu vergewissern, daß sie ihn auch richtig gestellt haben.
    Sich von einem Wecker wecken zu lassen, den man selber gestellt hat, sich, kurz gesagt, von sich selber wecken lassen! Und dann reden sie von Sklaverei.
    Sie sollen doch erst einmal lernen, auf dem Bauch zu schlafen, auf der Erde zu schlafen, wie Würmer und Insekten, und da der Erdgeruch nicht vorhanden ist, sich mit ihrem eigenen Geruch zu begnügen.
    Lotte spritzt sich Parfüm unter die Arme und gewiß auch zwischen die Schenkel und zwingt die Mädchen, es ebenso zu tun.
    Das ist unvorstellbar.
    Auf dem Bauch schlafen, seine Gliederschmerzen dosieren, beobachten und lenken, seine Zunge in das Loch stecken, das die beiden fehlenden Zähne hinterlassen haben und sich sagen, daß, wenn alles gutgeht, sich das Fenster jenseits des Hofes öffnen wird, so schlafen und so denken, das bringt einen schon der Wahrheit näher. Aber er weiß wohl, es ist noch nicht die ganze Wahrheit. Es stärkt ihn jedoch, zu wissen, daß er auf dem richtigen Weg ist.
    Ein Zeichen. Es sind die aus dem Zimmer nebenan. Sie gehen zur Pause. Wie sollte man es anders bezeichnen? Sie gehen mit beschwingten Schritten. Selbst die, die morgen erschossen werden, gehen mit beschwingten Schritten, vielleicht weil sie es noch nicht wissen.
    Sie gehen vorüber. Gut. Die Frage ist, ob der Chef genug Arbeit hat oder nicht. Der Chef ist viel wichtiger als sonst jemand auf der Welt. Er wird wohl nicht verheiratet sein. Wenn aber doch, dann ist seine Frau in seiner Heimat zurückgeblieben, was auf das gleiche hinauskommt. So beschäftigt er auch sein mag, plötzlich hebt er den Kopf und befiehlt: »Führen Sie mir Frank Friedmaier vor.«
    Zum Glück tut er es zu dieser Stunde selten. Zum Glück weiß er es nicht, niemand weiß es, und das ist einer der Gründe, aus denen sich Frank angewöhnt hat, auf dem Bauch zu schlafen. Wenn man wüßte, worauf er lauert, wenn man auch nur ahnte, welche Freude es ihm bereitet, würde man bestimmt den Stundenplan umstoßen.
    Es ist nicht Winter. Verzeihung, man ist noch mitten im Winter. Die große Kälte ist noch nicht vorüber, sondern sie kommt erst noch. Sie kommt meistens im Februar oder im März, und je später sie kommt, um so schlimmer ist sie. Und manchmal dauert sie bis Mitte oder bis Ende April.
    Nehmen wir aber einmal an, daß die dunkelste Stelle im Tunnel bereits hinter einem liegt. In diesem Jahr erlebt man das, was von Zeit zu Zeit Ende Januar eintritt: ein falscher Frühling. Jedenfalls nennen die Leute das einen falschen Frühling. Luft und Himmel sind klar. Der Schnee glänzt, ohne zu schmelzen, und dennoch ist es nicht kalt. Das Wasser ist zwar jeden Morgen gefroren, aber den ganzen Tag scheint die Sonne so hell, daß man schwören könnte, die Vögel scheinen sich täuschen zu lassen, denn man sieht sie paarweise fliegen und sich verfolgen wie zu einem Liebesspiel.
    Das Fenster drüben über der Aula steht jetzt länger offen.

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