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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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überzeugt – nein, es ist mehr ein Glaube als eine Überzeugung –, daß es nur von ihm abhängt. Wie die Menschen, die wenig schlafen, die aber zu schlafen gelernt haben, denkt er vor allem in Bildern und Empfindungen. Er müßte auf seinen Traum vom Flug zurückkommen, in dem er nur die Hände flach auszustrecken und sich dann mit aller Kraft, mit seinem ganzen Willen auf die Leere zu stützen brauchte, um sich zu erheben, langsam zuerst, dann schneller schwebend, bis sein Kopf die Decke berührte.
    Er kann aber nicht davon sprechen. Auch wenn Holst hier wäre, würde er ihm seine geheime Hoffnung nicht verraten. Noch nicht. Es ist genau wie in dem Traum. Es ist wunderbar, daß er diesen Traum mehrmals geträumt hat, denn das hilft ihm jetzt. Vielleicht ist das, was er jetzt erlebt, auch ein Traum. Es gibt Augenblicke, da er vor Schläfrigkeit nichts mehr weiß. Es hängt von ihm und seinem Willen ab, auch diesmal. Wenn er die Energie aufbringt und weiter den Glauben behält, wird es so lange dauern, wie es notwendig ist.
    Es geht nicht mehr um die Rückkehr in die Welt da draußen. Es gibt für ihn keine Hoffnungen mehr, wie sie gewiß die in dem Nebenraum Eingesperrten hegen. Diese Hoffnungen interessieren ihn nicht, sie erschrecken ihn eher.
    Die tun, was sie können. Es ist nicht ihre Schuld.
    Für ihn kommt es darauf an, eine gewisse Frist zu gewinnen. Wenn man ihn aufforderte, diese Frist in Tagen, Wochen oder Monaten anzugeben, könnte er nicht darauf antworten. Und wenn man ihn fragte, was das Ende sein soll?
    Es ist also schon besser, mit dem Chef zu diskutieren. Dies ist ein Verhör, bei dem er steht. Es gibt Verhöre, bei denen er sitzt, und andere, bei denen er steht. Ein primitiver Trick im Grunde, um seinen Widerstand zu schwächen. Er läßt sich nicht anmerken, daß er lieber steht. Wenn er sich setzen darf, sitzt er auf einem Hocker, und auf die Dauer ist das noch ermüdender.
    Der Chef steht nie auf. Er hat nie das Verlangen, ein paar Schritte im Raum zu machen, um sich die Beine zu vertreten. Kein einziges Mal, nicht einmal während eines Verhörs, das fünf Stunden dauerte, ist er hinausgegangen, um seine Notdurft zu verrichten oder um ein Glas Wasser zu trinken. Er begnügt sich damit, Zigaretten zu rauchen, und selbst die läßt er regelmäßig zwei- oder dreimal ausgehen.
    Er verwendet zahlreiche Tricks. So läßt er zum Beispiel Franks Revolver immer auf seinem Schreibtisch liegen, als ob er ihn vergessen hätte, als ob es irgendein bedeutungsloser Gegenstand wäre. Er benutzt ihn als Briefbeschwerer. Seit dem ersten Tag, da man Franks Taschen durchsucht hat, hat er nie darauf angespielt. Trotzdem liegt die Waffe dort wie eine Drohung.
    Man muß nüchtern überlegen. Es ist ja nicht nur Frank, mit dem sich der Chef in seiner Abteilung beschäftigen muß. Trotz der Zeit, die er ihm widmet und die beträchtlich ist, ist zu vermuten, daß ein Mann von seiner Bedeutung noch andere Probleme zu lösen und andere Häftlinge zu vernehmen hat. Bleibt der Revolver auch dort liegen, während er die anderen vernimmt? Ist es nicht vielmehr ein Dekorationsstück, das man immer wieder auswechselt? Wird der Revolver bei anderen Verhören nicht durch einen anderen Gegenstand, einen Dolch, einen Scheck, einen Brief oder sonst irgendein Beweisstück ersetzt?
    Wie soll man es erklären, daß dieser Mann ein Segen des Himmels ist? Andere würden es nicht begreifen und ihn hassen. Ohne ihn wäre sich Frank nicht ständig der Zeit bewußt, die ihm noch bleibt. Ohne ihn und ohne diese erschöpfenden Verhöre hätte er vielleicht nie geahnt, daß man so klar denken kann, wie er es jetzt tut. Früher hatte er sich darunter etwas ganz anderes vorgestellt.
    Man muß auf der Hut bleiben und darauf achten, daß man nicht zuviel auf einmal zugibt. Es könnte sonst zu schnell gehen, und man wäre im Nu am Ende.
    Es darf aber nicht so schnell zu Ende gehen. Frank muß noch einiges erledigen. Es geht langsam voran. Schnell und langsam zugleich.
    Das hindert ihn daran, sich um die Männer zu kümmern, die man im Morgendämmern aus dem Klassenzimmer nebenan abholt, um sie zu erschießen. Am eindrucksvollsten ist im Grunde der Augenblick, den man dazu aussucht. Die Häftlinge sind noch nicht richtig wach, nicht gewaschen, nicht rasiert, haben nicht einmal eine Tasse Kaffee im Magen, und der Kälte wegen schlagen sie alle ohne Ausnahme ihren Jackenkragen hoch. Warum dürfen sie nicht ihren Mantel anziehen? Das ist ein

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