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Der Schneesturm

Der Schneesturm

Titel: Der Schneesturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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schnurgeradeaus!«
    Der Doktor nickte erfreut.
    In Stary Possad war der Krächz bislang ganze zwei Mal gewesen: zur Hochzeit von Matrjona Chapilowa und dann noch mit dem kleinen Brudersohn, dem er hier zwei Ferkel gekauft hatte, beim alten Awdej Semjonitsch, Spitzname Arschtasche. Aber das eine Mal war im Herbst gewesen, das andere Mal im Frühling – kein Gedanke an Schneetreiben. Das Dorf hatte dem Krächz gut gefallen: neun Höfe, allesamt wohlhabend und rechtschaffen. Die Possader verdienten ihr Brot mit Schnitzereien, Tretereien und Schwungmassen. Und die Wiesen waren eine Wucht. Der Krächz war auf dem Rückweg mit dem Brudersohn und den Ferkeln durch die Wiesen gefahren, weil die Landstraße um die Jahreszeit verschlammt war. Damals hatten die Wiesen von Stary Possad mit ihrer Weite und Makellosigkeit großen Eindruck auf den Krächz gemacht.
    Jetzt lag das alles unterm Schnee.
    Das Mobil zuckelte durch die Ebene.
    Wenn der Krächz sich recht entsann, gab es am Ortseingang einen kleinen Hag von Linden oder Eichen.
    Kommt der erst mal in Sicht, liegt Possad gleich dahinter, dachte der Krächz. Da klopfen wir irgendwo an, zum Aufwärmen. Bleiben ein Stündchen und brechen wieder auf. Dann ist es nicht mehr weit.
    Die Pferde schienen die Ortschaft auch schon zu wittern, sie liefen flotter, obwohl die Straße wieder zuzuwehen begann.

    Ich muss das Schuhwerk wechseln, dachte der Doktor und wackelte mit den nassen Zehen, in die die Kälte zwickte.
    »Erst kommt ein Hag und dann Possad«, suchte der Krächz den Doktor aufzumuntern.
    Ein Seitenblick genügte, um zu sehen, dass der Doktor sehr erschöpft war. Die Nase mit dem Kneifer stach komisch aus der verschneiten, krumm auf dem Bock sitzenden Gestalt hervor.
    Wie ein Schneemann, dachte der Krächz und lächelte in sich hinein. Oder ein müder Elefant. Hat aber auch wirklich Pech mit dem Wetter …
    Sie fuhren und fuhren durch weißes, ödes Land; ein Hag kam nicht in Sicht.
    Sollte ich mich schon wieder geirrt haben?, dachte der Krächz und riss die Augen auf, die ihm vor Müdigkeit immerfort zufallen wollten. Starrte in den wirbelnden Schnee.
    Endlich tauchte der Hag auf.
    Na Gott sei Dank, dachte der Krächz und lachte.
    Sie kamen näher. Der Hag bestand aus großen, alten Bäumen. Das Wäldchen, an das der Krächz sich erinnerte, war Jungwuchs im ersten Maiengrün.
    So schnell können die unmöglich gewachsen sein, dachte der Krächz und rieb sich die Augen.
    Und plötzlich sah er unter den Bäumen ein Kreuz. Noch eins und noch eins. Sie fuhren darauf zu. Es wurden immer mehr Kreuze, die aus dem Schnee ragten.
    »Herrje, ein Gottesacker«, ächzte der Krächz und zog die Zügel an.
    »Ein Friedhof?«, fragte der Doktor und putzte sich wütend den Kneifer.
    »Sieht ganz danach aus«, sagte der Krächz und saß ab.
    »Und wo ist das Dorf?«, brummte der Doktor, nachden schiefen Kreuzen schielend, um die der Wind tobte und tanzte wie zum Hohn.
    »Hä?«, machte der Krächz und duckte sich vor dem Wind.
    »Wo das Dorf ist, will ich wissen!«, brüllte der Doktor und hasste in diesem Moment alles: den Schneesturm, den Friedhof, den Krächz, diesen Knallkopf, der ihn sonst wohin kutschierte, die nassen, frierenden Zehen, den schweren Parka mit dem anhaftenden Schnee, das bescheuerte Mobil mit der bescheuert bemalten Lehne und den bescheuerten Zwergpferdchen in der bescheuerten Sperrholzkaube, die verfluchte Epidemie, nach Russland eingeschleppt von irgendwelchen Ganoven aus dem fernen, gottverlassenen Bolivien, das keinen Russen etwas anging, und den vorausgeeilten Silberstein, diesen gelehrten Hochstapler und Klugscheißer, der nur seine Karriere im Kopf hatte und nicht etwa, ob der Kollege Doktor Garin vielleicht auch eine Postkutsche nötig hatte, und diese nicht enden wollende Straße, umgeben von Schneewehen, die an den ewigen Schlaf denken ließen und über die unentwegt ein garstiger Drachenbesen hinfuhr, und den trostlos grauen Himmel, löchrig wie ein Sieb, ölgötzenhaft grinsend wie ein dämliches, Sonnenblumenkerne knackendes, vor seiner Hütte gluckendes fettes Weib, diesen verdammten Himmel, aus dem es, Stund um Stund, unaufhörlich diese verdammten Schneeflocken rieselte.
    »Aber hier muss doch irgendwo …«, stammelte der Krächz, ratlos den Kopf drehend.
    »Was haben wir auf diesem Friedhof zu suchen?«, fuhr der Doktor ihn giftig an.
    »Wir sind dahier reingeraten, der Herr, ich weiß auch nich«, so der Fuhrmann mit gerunzelter Stirn.
    »Bist du

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