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Der Schneesturm

Der Schneesturm

Titel: Der Schneesturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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hier zum ersten Mal oder was?«, brüllte derDoktor so aufgebracht, dass er gleich wieder husten musste.
    »Nein«, rief der Krächz ohne Arg. »Aber zum ersten Mal im Winter!«
    »Was zum Teufel bist du für ein …«, hob der Doktor an, doch der Schnee stopfte ihm den Mund.
    »Ich war schon mal da«, rief der Krächz, den Kopf hektisch wie eine Elster hin und her wendend, »aber an den Friedhof entsinn ich mich nich … Nich die Bohne!«
    »Dann fahr weiter!«, brüllte und hustete der Doktor. »Was stehen wir noch?!«
    »Mir iss nich klar, wohin …«
    »Wo ein Friedhof ist, kann das Dorf nicht weit sein«, schrie der Doktor so gellend, dass er selber erschrak.
    Der Krächz scherte sich keinen Deut um das Gebrüll. Er dachte nach. Dies brauchte sein Weilchen, derweil der Kopf unruhig hin und her ging. Dann lenkte er das Gefährt entschlossen vom Friedhof, nach links aufs freie Feld hinaus.
    Wenn an der Gabelung der eine Zweig nach Possad ging und der andre nach den Wiesen, und der Friedhof iss nahe beim Dorf, dann heißt das schon mal, ich bin richtig gefahrn, überlegte er. Wahrscheinlich gabs hier noch mal nen Abzweig, den wir übersehn haben. Halt ich mich jetzt links, muss da Possad sein, und die Wiesen sind dahinter.
    Der Doktor, vom eigenen Brüllen ernüchtert und zur Besinnung gebracht, verzichtete auf die Frage, warum der Krächz nicht wendete und die Straße zurückfuhr, die sie gekommen waren, sondern querfeldein steuerte.
    Was solls, was solls, suchte der Doktor sich mit Sarkasmus aufzuheitern, Idioten hat die Welt nicht zu knapp. Von Mondkälbern ganz zu schweigen! …
    Der Krächz stapfte schwer durch den tiefen Schneeund lenkte das Mobil übers freie Feld. So felsenfest war er davon überzeugt, Possad vor sich zu haben, das er sich nicht einmal sonderlich ins wölkende, unwillig weichende Nebelgrau hinein verguckte. Das Mobil kam schwer vom Fleck, die Pferdchen hatten Mühe, doch der Krächz stapfte unbeirrt einher, das Lenkscheit hatte er fahren lassen, gab dem Mobil nur hin und wieder einen aufmunternden Stoß. Allmählich griff die Unerschütterlichkeit, mit der der Krächz dahinlief, auf den Doktor über.
    »Gleich … gleich sind wir da«, murmelte der Krächz in seinen Bart und lächelte eisern.
    Tatsächlich zeichneten sich bald darauf im weißen Gekräusel die Umrisse eines Hauses ab.
    »Geschafft, Doktorchen!«, rief der Krächz und zwinkerte seinem Fahrgast erleichtert zu.
    Beim Anblick des näher rückenden Hauses spürte der Doktor auf einmal, wie sehr ihn nach einer Zigarette gelüstete und danach, den schwer lastenden Parka und die bleierne Fuchsschwanzmütze abzuwerfen, die durchnässten Stiefel von den Füßen zu kriegen und vor einem Herdfeuer Platz zu nehmen.
    Den Krächz wiederum dürstete nach einem Becher Kwass. Er schnäuzte sich in den Handschuh und verfiel in einen geruhsameren Schritt, ließ das Mobil vorausfahren.
    Wer war das noch mal, der da im letzten Haus wohnt?, suchte er sich vergeblich zu entsinnen. Von den Possadern kannte er einzig Matrjona, ihren Mann Mikolai und den alten Awdej, die Arschtasche. Matrjonas Haus war das dritte rechter Hand, die Arschtasche wohnte daneben …
    Unter dem verrutschten Mützenrand hervor sah er auf das Haus vor sich – und erstarrte: Es war gar kein Haus.Auch kein Stall und keine Scheune. Nicht mal nach einem Badehäuschen sah das aus.
    Worauf sie zusteuerten, war ein dunkelgraues, kegelförmiges Zelt. An seiner Spitze als lebendiges Bild ein zeitlupenhaft zwinkerndes Auge. Das kannten der Fuhrmann und sein Fahrgast nur zu gut.
    »Pomadinierer!«, stöhnte der Krächz auf.
    »Dopaminierer«, korrigierte der Doktor.
    Das Mobil war vor dem Zelt angelangt und stehen geblieben, in seiner Spur folgte der Krächz. Der Doktor wühlte sich aus dem Fell und stieg ab, schüttelte den Schnee von sich. Ein schwacher Dunst wie von Auspuffgasen schlug ihnen entgegen. Und zu hören war es auch: In dem Zelt tuckerte ein kostbarer Benzingenerator.
    »Und dein Possad ist wo?«, fragte der Doktor schon ganz ohne Häme – so froh war er, dem toten weißen Universum entronnen und einer Zivilisation, welcher auch immer, begegnet zu sein.
    »Irgendwo in der Nähe«, brummelte der Krächz, während sein Blick über die ebenmäßige, perfekt gespannte Zeltwand aus lebend gebärendem Filz ging.
    Er konnte die Tür ausmachen, die auch aus Filz war, und klopfte mit dem Handschuh dagegen. Sogleich ertönte drinnen ein an- und abschwellender Signalton. In der

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