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Der Schneesturm

Der Schneesturm

Titel: Der Schneesturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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Davon, dass er es schluckt, kommt er zu sich. Er erbricht es. Kotzt Öl ins Öl. Die Menge johlt. Er möchte sie von seiner Unschuld überzeugen, doch er kann nicht sprechen, kriegt keine Luft. Er hustet krampfhaft, der Husten schüttelt ihn. Er schreit den Husten geradezu heraus. Der Boden des Kessels wird heißer. Nur die Öse in derMitte ist noch kühl. Sie ist dick und steht weit hervor. Seine Finger umklammern die Öse. Er hustet sich frei. Versucht, seine Gedanken zu ordnen. Die Ruhe wiederzugewinnen. Und er wendet sich mit einer Rede an die Menge. Spricht vom Glauben. Er habe keine Angst zu sterben, sagt er. Denn er sei ein gläubiger Mensch. Er erzählt aus seinem Leben. Für das er sich nicht zu schämen braucht. Er sei immer bemüht gewesen, mit Anstand durchs Leben zu gehen. Gutes zu tun und den Menschen von Nutzen zu sein. Natürlich seien auch Fehler vorgekommen. Er erwähnt das Mädchen, das er zur Frau und dem er ein Kind gemacht, welches sie abtreiben ließ. Später habe er erfahren, dass sie danach nicht mehr gebären konnte. Und die Flasche fällt ihm ein, die er als Student auf einer Party im Vollrausch aus dem Fenster geworfen und die einen Passanten am Kopf traf. Und er erzählt, wie er einmal auf einen Hausbesuch verzichtet habe, und der Patient sei gestorben. Er habe viel gelogen in diesem Leben. Freunde und Kollegen verleumdet. Hässliche Dinge über die Frau herumerzählt, mit der er zusammenlebte. Manchmal habe er den Eltern gegenüber mit Geld gegeizt. Kinder anzuschaffen habe er keine Lust gehabt. Es sei ihm darum gegangen, frei und ungebunden zu sein, das Leben zu genießen. Vor allem deshalb sei die Ehe auseinandergegangen. Er bereue viele seiner Handlungen. Dass er sich mitunter abfällig über die Regierung geäußert, Russland die Tartaren an den Hals gewünscht habe, zum Beispiel. Sich lustig gemacht über den Russen als solchen. Den Gossudaren verspottet. Aber Übeltaten habe er zu keiner Zeit begangen. Sei immer ein gesetzestreuer Bürger gewesen. Habe immer brav seine Steuern bezahlt. Allmählich wird der Kesselboden richtig heiß. Er spannt alle Muskeln an, stützt sich mit den Füßen auf die Öse. Die auch schonlangsam wärmer wird. Mit den Händen hält er seine Füße auf der Öse. Es gebe nichts Schlimmeres, als wenn einer unschuldig hingerichtet wird, sagt er. Dies sei noch weit schlimmer als ein Mord. Denn der Mord werde von einem Verbrecher begangen, und sogar der lasse seinem Opfer noch eine Chance zu entkommen. Das Opfer könne unter Umständen fliehen, sich den Händen des Mörders entringen, um Hilfe rufen. Der Schlag könne danebengehen, der Mörder stolpern. Auch müssen die Verletzungen, die er dem Opfer zufügt, nicht zwangsläufig tödlich sein. Werde hingegen ein Mensch hingerichtet, so bleibe ihm keine Chance. Darin liege das Grauen und die Gnadenlosigkeit solch einer Tötung. Er sei zu allen Zeiten ein Gegner der Todesstrafe gewesen. Das aber, was sich hier auf diesem Marktplatz abspiele, stelle jede gewöhnliche Hinrichtung noch in den Schatten. Denn hier werde ein Unschuldiger hingerichtet. Weshalb alle, die sich zu dieser Hinrichtung eingefunden haben, eine denkbar große Sünde begehen. Die ihrer Stadt auf ewig als Schmach anhängen werde, noch den Kindern und Enkelkindern. Er spürt, wie das am Boden sich erhitzende Öl in warmen Wellen aufwärtsstrebt und das kühle Öl von der Oberfläche drängt. Warmes Öl verdrängt kaltes Öl. Das kalte Öl sinkt zu Boden, wo es zu warmem Öl wird und wieder nach oben steigt. Er spricht von den Kindern, die anwesend sind, auf den Schultern ihrer Väter sitzen. Die, wenn sie einmal größer sind, von seiner Unschuld erfahren werden. Und sich schämen werden für ihre Eltern. Für ihre schöne Stadt. Nicht dazu da, Menschen hinzurichten, sondern ein Leben in Freude und Geborgenheit zu ermöglichen. Seine Füße rutschen von der Öse und berühren den Boden. Der Boden ist heiß. Er stößt sich schnell wieder ab, seine Sohlen suchen die Öse mit dem Strick zu umklammern,krallen sich am Strick fest. Er spricht vom Glauben. Der Glaube solle die Menschen bessern. Der Mensch solle den Menschen lieben. Zwei Jahrtausende seien vergangen seit dem Tode Jesu, und immer noch haben die Menschen nicht gelernt, einander zu lieben. Die Stimme des Blutes zu vernehmen. Sie haben nicht aufgehört, einander zu hassen, zu betrügen und zu berauben. Einander zu töten. Können die Menschen vom Töten lassen? Sie können es: in den Grenzen

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