Der Schneesturm
feierlichem Ton. Auf Latein? Nein. Auf Polnisch. Nein, Polnisch ist das auch nicht. Eine andere Sprache. Serbisch vielleicht? Oder Bulgarisch? Rumänisch! Es wird wohl Rumänisch sein. Da wird etwas vorgetragen. Es klingt sehr pathetisch. Fast ein bisschen wie gesungen. Und das ganze Brimborium seinetwegen! Alle sind ganz Ohr. Glotzen. Was da vorgetragen wird, meint ihn allein. Und es dauert. Er versucht, ein Stück zur Seite zu rücken, zum Kesselrand hin, um wenigstens das Kinn darauf stützen zu können und sich ein wenig hochzuziehen. Doch dabei muss er feststellen, dass das Seil, das Hand- und Fußgelenke zusammenhält, am Boden des Kessels befestigt ist und ihn so in der Mitte des Gefäßes hält. Da unten befindet sich nämlich eine weitere Öse, direkt unter ihm. Er kann sie mit den Fingern ertasten. Sie ist glatt und rund. Durch sie ist das dicke Seil gefädelt. Er kommt aus diesem Kessel nicht heraus, das begreift er nun. Erst recht nicht mit gefesselten Händen und Füßen. Die Öse hält ihn fest. Er schreit auf vor Entsetzen. Das freut die Menge, sie jubelt und lacht. DieLeute schneiden ihm Grimassen, zeigen mit Fingern auf ihn. Frauen halten ihre Kinder auf dem Arm. Die Kinder lachen und verspotten ihn. Er zappelt, reißt an seinen Fesseln. Für einen Moment verliert er vor Grauen das Bewusstsein. Kommt aber gleich wieder zu sich, verschluckt sich an dem ekligen, stinkenden Öl. Es gerät ihm in Mund und Nase, ein quälender Hustenanfall ist die Folge. Widerwärtiges Speiseöl, wie das stinkt! Und wie viel es ist. Träge umschwappt es seinen Leib, man verschluckt sich daran im Nu. Großmutter hat mit dem Zeug immer ihr Sauerkraut begossen. Aber hier diese Unmenge! Der Geruch nimmt ihm den Atem. Einzig der leichte Wind bewahrt ihn vor dem Ersticken. Ihm wird schwindlig von diesem Geruch. Die spärlichen großen Schneeflocken fallen ins Öl und lösen sich auf. Fallen hinein, weg sind sie. Zack und weg. Die haben es gut. Sind nirgendwo angebunden. Und schulden keinem was. Aber da hat der Vortragende das letzte, pathetische Wort herausgebrüllt. Die Menge grölt, sie tobt, Arme fliegen in die Luft. Der Lärm ist so gewaltig, dass der Kessel davon zu vibrieren anfängt und rings um den gusseisernen Rand kaum wahrnehmbare kreisförmige Wellen im Öl entstehen. Und jetzt erklimmt jemand das Gerüst. Es ist ein Halbwüchsiger mit einer Fackel. Er trägt ein Samtjäckchen mit kupfernen Knöpfen, rote Beinkleider und rote Schuhe mit aufgebogener Spitze. Sein Antlitz ist wunderschön. Ein Engelsgesicht. Das lange kastanienbraune Haar fällt ihm glatt auf die Schultern. Auf dem Kopf trägt der junge Mann ein rotes Barett, geschmückt mit einer Falkenfeder. Er hebt die Fackel. Die Menge tobt. Er senkt die Fackel unter den Kessel. Beugt sich dazu nach vorn. Jetzt ist nur noch das Barett des Jungen zu sehen. Die Falkenfeder zittert. Ein schwaches Knacken ist zu vernehmen, das allmählich stärker wird. Allem Anschein nach wird da harziges Kiefernreisig entzündet. Das Geprassel wird stärker. Schwarzer Rauch schlägt unter dem Kessel hervor. Der Halbwüchsige verlässt das Gerüst. Sein Barett mit der Feder leuchtet schon aus der Menge hervor. Die Menge jauchzt und frohlockt. Er unternimmt noch einen verzweifelten Versuch, sich zu befreien, strengt sich so sehr an, dass seinen Gedärmen Winde entweichen, die als betuliche Blasen rings um ihn an die Oberfläche steigen. Doch die Stricke geben nicht nach. Er zuckt und zerrt, schluckt neues Öl, muss wieder husten, schnappt nach Luft. Das Öl schwappt. Dickflüssig, stinkend. Nur der Kessel steht fest und unerschütterlich. Er stößt einen Schrei aus. Dreifach hallt das Echo seiner Stimme von der Kirchmauer zurück. Die Menge hört ihn schreien, sie johlt. Er fängt an zu weinen, stammelt wirre Worte, beteuert seine Unschuld. Er will der Menge Zeugnis ablegen über sich. Nennt seinen Namen. Den seiner Mutter. Den seines Vaters. Er spricht von einem ungeheuerlichen Versehen. Er habe den Menschen doch gar nichts Böses getan. Er erzählt von seinem ehrbaren Arztberuf. Zählt die Namen der Patienten auf, denen er das Leben gerettet. Ruft Gott zum Zeugen. Die Meute hört zu und johlt. Er spricht von Jesus Christus, von der Liebe, den Geboten. Und spürt währenddessen an den Fersen, dass der Boden des Kessels warm geworden ist. Er jault vor Entsetzen. Und fällt erneut für Sekunden in Ohnmacht. Wieder ist es das Öl, das stinkende Öl, das ihn zu Bewusstsein bringt.
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