Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schneesturm

Der Schneesturm

Titel: Der Schneesturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
Vom Netzwerk:
Temperatur gefallen, schoss es ihm durch den Kopf.
    Er gab sofort nach, ließ den Krächz los.
    »Wo willst du denn hier ein Feuer machen?«, fragte er schniefend und drehte den Kopf.
    »Halt eben hier«, gab der Krächz unbestimmte Auskunft, glitt vom Bock und richtete seine Mütze. »Dadrüben gibts Büsche, da iss Bruchholz. Ich geh was ausbuddeln.«
    Noch ehe der Doktor etwas erwidern konnte, hatte die mit Schnee gefüllte Schwärze den Krächz geschluckt.
    Wo will er hin, der Dummkopf?, fragte der Doktor sich, gereizt in die Finsternis starrend. Doch die Gereiztheit zerstreute sich umgehend, wurde von einer so bleiernen Müdigkeit erdrückt, dass er sich unmöglich länger auf den Füßen halten konnte.
    Er kletterte auf den Bock, hüllte sich in das Bärenfell, machte sich krumm und klein. Um ihn her Stürmen und Stieben. Am liebsten hätte der Doktor ewig so dagesessen, ohne sich zu rühren, ohne den Drang, etwas zu tun oder zu sagen, irgendwohin zu gehen. Die nassen Füße froren ihm, doch die Stiefel auszuziehen und den Schnee herauszuschütteln fehlte die Kraft.
    Ich habe ja noch den Alkohol!, fiel ihm ein – doch schon der nächste Gedanke war: Nein, Betrunkene erfrieren schneller, ich darf nichts trinken, auf gar keinen Fall …
    Er schlummerte ein.
    Im Traum erschien ihm Irina, die einmal seine Frau gewesen. Sie sitzt mit ihrem Strickzeug auf der großen, sonnenüberfluteten Terrasse der Datscha, die sie an der Pachra gemietet haben. Er ist eben nach dreistündiger Zugfahrt eingetroffen, hat heute verkürzten Dienst gehabt, denn es ist Freitag, das Wochenende steht vor der Tür; er hat aus der Stadt eine Erdbeertorte mitgebracht, die sie so sehr mag, die Torte ist ein bisschen sehr groß, nun ja, sie ist riesig zu nennen, so groß wie das Sofa. Er stellt sie auf dem sonnenheißen grünen Verandafußboden ab, geht um sie herum, dicht an der Wand mit den lebendigen Fotografien entlang, auf die Frau zu – und plötzlich sieht er, dass sie schwanger ist, und dies augenscheinlich schon im siebten oder achten Monat, der Bauch beult ihr Lieblingskleid mit den kleinen hellblauen Blüten gehörig. Die Stricknadeln flott handhabend, strahlt Irina ihren Mann an.
    »Ja sag mal!« Er fällt vor ihr auf die Knie, umarmt und drückt sie. Er weint vor Glück. Ja, er ist überglücklich, einen Sohn zu bekommen; dass es ein Junge wird, dessen ist er sich sicher, und in Bälde wird es so weit sein; er küsst seiner Frau die Hände, die so zart und schwach und nachgiebig sind; ungeachtet seiner Küsse stricken sie weiter, halten nicht ein; er vergießt Freudentränen, die auf die Hände tropfen, das Kleid und das Strickzeug. Er berührt Irinas Bauch – und plötzlich wird ihm klar, dass dieser Bauch ein kupferner Kessel ist. Er befingert die angenehm glatte kupferne Oberfläche, legt das Ohr an den Kupferbauch und hört in ihm etwas angenehm gluckern, summen und brodeln. Der Bauch wird angefeuert. Er legt die Wange an den warmen Bauch und weiß auf einmal, darinnen ist Öl, gleich wird es sieden, und dann werden da die kleinen Pferdchen frittiert; wenn sie gar sind, werden sie knusprig sein wie gebratene Rebhühnchen, und seine Frau und er werden sie auf Mamas Silbergeschirr drapieren, das wird ein Festmahl für den Sohn, der lange schon groß ist und erwachsen und der, stellt sich heraus, oben in der Mansarde liegt und schläft, sie hören sein herzhaftes Räuberschnarchen, von dem die ganze Datscha zittert und der Verandafußboden leise mit.
    »Sieh mal, Plati«, sagt die Frau und zeigt ihm, was sie gestrickt hat.
    Es ist eine hübsche, zierlich gemusterte Decke für ein Kleinpferd.
    »Wir werden fünfzig Kinder haben!«, sagt die Frau froh und bestimmt, und ihr Lachen ist glücklich.

    Ein harter Schlag ließ den Traum bersten.
    Platon Garin bekam die Lider nur mit Mühe auf. Ringsum Finsternis und Schnee, wie gehabt.
    Ein neuer Schlag. Der Krächz spliss mit der Axt die halbrunde Schlussleiste von der Sitzlehne.
    Der Doktor regte seine Glieder und erbebte im selben Moment von einem gewaltigen Kälteschauer, der ihn von Kopf bis Fuß durchfuhr. In der kurzen Zeit, die er geschlafen hatte, war sein Körper vollkommen steif gefroren. Die Kälte griff dem Doktor so ans Mark, dass er seine Zähne klappern hörte.
    »Gleich!«, hörte er den Krächz brummen, der neben ihm herumfuhrwerkte.
    Stöhnend und bibbernd kam der Doktor zu sich. Der Krächz hatte mit der Axt ein Loch in den Schnee neben dem Mobil gewühlt und ein

Weitere Kostenlose Bücher