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Der Schneesturm

Der Schneesturm

Titel: Der Schneesturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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diese Welt geboren, um seinen Lebensweg zu finden. Gott hat uns das Leben geschenkt, und er möchte, dass wir wissen, wozu dieses Leben gut ist. Nicht, dass wir wie Pflanzen oder Tiere dahinvegetieren, ein Leben leben, dem es an nichts fehlt als an einem Sinn … Drei Dinge sind es, die wir uns vor Augen zu halten haben: Wer sind wir, woher kommen wir und wohin gehen wir. Ich zum Beispiel, Doktor Garin, Homo sapiens, geschaffen nach dem Ebenbild Gottes, fahre jetzt durch die Nacht in ein Dorf zu meinen Patienten, um sie vor der Epidemie zu beschützen. Darin liegt ein Stück des mir vorbestimmten Lebensweges, hier und heute. Und fiele dieser leuchtende Mond plötzlich herab auf die Erde und das Leben hörte auf, dann stünde es mir in dieser Sekunde doch an, die Bezeichnung Mensch zu tragen, da ich keinen Fingerbreit vom Weg abgewichen bin. Und das ist wunderbar!
    Plötzlich ein Schnauben und Prusten in der Kaube, nervöses Trappeln auf dem Lauf. Das Mobil verlor an Fahrt.
    »Was iss denn nu wieder los?« Irritiert rückte der Krächz sich die Mütze zurecht.
    Kurz darauf standen die Pferde. Prusteten.
    Der Krächz erhob sich vom Bock und spähte voraus. Sah etwas rechter Hand zwischen den vereinzelten Büschen, zwei huschende Schatten.
    »Doch nich etwa Wölfe?« Der Krächz stieg aus, nahm die Mütze ab und schaute.
    Der Doktor konnte erst nichts Auffälliges entdecken. Bis auf einmal zwei Paar gelbe Augen im Gebüsch aufblitzten.
    »Wölfe!«, stöhnte der Krächz auf und winkte mit der Mütze ab. »Auch das noch!«

    »Tatsächlich«, nickte der Doktor. »Keine Angst, ich habe den Revolver dabei.«
    »Aber die Pferdis tun kein Schritt, solange die in der Nähe sind.« Der Krächz setzte die Mütze wieder auf. »Gott im Himmel, musste das sein …«
    »Dann verscheuchen wir sie eben!«, sagte der Doktor entschlossen, sprang ab und ging nach hinten, wo er eine der Taschen abschnallte.
    »Da! Noch zwei …« Der Krächz hatte sie etwas weiter links hinten entdeckt. Den Blick wieder voraus richtend, sah er noch einen in der Ferne seelenruhig über das mondlichtbegossene Feld schnüren.
    »Stücker fünf!«, rief er dem Doktor zu.
    Jetzt fingen sie an zu heulen.
    Die Pferde schnaubten und wieherten erschrocken.
    »Keine Bange. Ich geb euch nicht her!«, rief der Krächz und klopfte mit dem Handschuh begütigend auf die Matte.
    Mit Mühe hatte der Doktor die Tasche losgeeist, brachte sie nach vorn und schleuderte sie auf den Bock. Klappte sie auf, fand den kleinen, stumpfnasigen Revolver, spannte den Hahn.
    »Wo sind sie?«
    »Da vorne!« Der Krächz wies mit dem Fäustling voraus.
    Der Doktor ging vier Schritte in die angegebene Richtung; mit dem letzten geriet er von der Straße herunter und stand sogleich im tiefen Schnee. Er zielte auf die Büsche und schoss drei Mal. Gelbe Blitze gleißten über die im kalten Mondlicht liegende Ebene.
    Vom Knallen dröhnte dem Doktor das rechte Ohr.
    Nicht sonderlich eilig wechselten die Wölfe – alle fünf, einer in der Spur des anderen – ein Stück nach rechts. Jetzt sah der Doktor sie auch.

    »Ah, da seid ihr ja!«, rief er und schoss ihnen noch zweimal hinterher.
    Beinahe gemächlich entfernten die Wölfe sich weiter, verschwanden schließlich ganz hinter den Büschen.
    »Na also«, sagte der Doktor und steckte den nach Pulverrauch stinkenden Revolver ein. »Der Weg ist frei!«, fügte er, an den Krächz gewandt, hinzu.
    »Kann man so sehn …« Der Krächz ging daran, die Matte über der Kaube zu lösen. »Aber die Pferdis, die sehn das anders.«
    »Was soll das heißen?«
    »Sie scheun den Wolfsgeruch.«
    Der Doktor schaute in die Richtung, in die die Wölfe geflohen waren. Das weite Feld hatte sie geschluckt.
    »Die sind doch auf und davon!«, rief der Doktor und schüttelte missbilligend den Fuchsschwanz. »Da riecht nichts mehr!«
    Der Krächz, beschäftigt, die Matte zurückzuklappen, hörte gar nicht hin. Die Pferde standen reglos in der Kaube. Drehten die Köpfe nach dem Krächz.
    »Ihr müsst nich glauben, dass ich euch hergeb!«, sprach er ihnen gut zu. »Nie und nimmer …«
    Die Pferde schauten und schwiegen, nur die winzigen Ohren spielten. Die blanken Augen funkelten im Mondlicht.
    »Was ist mit ihnen?«, fragte der Doktor, sich über die Kaube beugend.
    »Sie brauchen noch ein Weilchen«, sagte der Krächz, sich den Kopf unter der Mütze kratzend. »Dann gehts weiter.«
    »Sie brauchen noch ein Weilchen wozu?«
    »Sich von dem Schreck zu

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