Der Schneesturm
da, die kaputte, sich gleich im Schnee verhakt, und das wars dann.«
Der Doktor sah es ein.
»Die iss gebrochen, weil sie schon den Riss hatte«, sagte der Krächz seufzend. »Sonst wärs nich passiert. Aber mit dem Spalt, da musste sie brechen. Früher oder später musste sie das.«
Der Doktor spuckte wütend aus und griff in die Tasche nach dem Etui, bevor er sich erinnerte, dass die Zigaretten alle waren, da spuckte er gleich noch einmal.
»Gut, dann geh ich mal ein Krummholz suchen«, sagte der Krächz und trollte sich durch den Schnee in Richtung Tannenschonung.
»Bleib nicht so lange!«, befahl der Doktor ihm fuchtig.
»Je nachdem«, erwiderte der Krächz und verschwand zwischen den Bäumen.
»Idiot«, knurrte der Doktor ihm hinterdrein.
Ein Weilchen stand er noch neben dem Unglücksschädel herum, dann stieg er auf den Bock und packte sich ins Bärenfell, zog die Fuchsschwanzmütze über die Augen, vergrub die Hände tief in den Parkataschen und verharrte so. Noch spürte der Doktor den Alkohol in seinen Adern, doch die Wirkung ließ nach, ihm wurde langsam wieder kalt.
Was ist das bloß für eine Eselei?, dachte er.
Und war im nächsten Moment eingeschlummert.
Er träumte von einer großen, festlichen Tafel in einem weitläufigen, hell erleuchteten Saal, etwas wie der Bankettsaal im Moskauer Haus der Gelehrten, mit einer Vielzahl bekannter und unbekannter Leute, die augenscheinlich alle etwas mit ihm, seinem Berufs- und Privatleben zu tun hatten; diese Leute gratulierten ihm und taten erfreut, griffen zu den Gläsern, sprachen hochtrabende, feierliche Worte, und er, der weder um den Anlass der Feierlichkeit wusste noch um den Sinn all des Wünschens und Frohlockens, fühlte sich bemüßigt zu nicken, Haltung zu bewahren, froh und bewegt zu erscheinen, obwohl ihm die Fragwürdigkeit dessen, was hier vor sich ging, bewusst war. Jetzt erklomm einer der Anwesenden umständlich einen Tisch, alles verstummte und blickte auf ihn. Platon Garin erkannte den Mann, das bartlose Gesicht, den typischen Ausdruck müder Zuvorkommenheit darin: Es war Professor Amlinski, der ihnen einst an der Fakultät die Vorlesungen in septischer Chirurgie gehalten. Amlinski richtete sich auf, kreuzte theatralisch die Arme vor der befrackten Brust und begann ohne ein Wort auf dem Tisch zu tanzen; es war ein sonderbarer Tanz, bei dem er die Absätze seiner Halbstiefel kräftig gegen die Tischplatte stieß, dieser Tanz hatte etwas Zweideutiges, feierlich und schauerlichzugleich, was allen Anwesenden offenbar bewusst war, und auch Platon Garin ward von einer Ahnung erfasst. Der Tanz hieß Rogud, es war ein medizinischer Trauertanz, und er war keinem anderen gewidmet als ihm, Doktor Platon Iljitsch Garin, und all die am Tisch versammelten Leute waren zu Garins Leichenschmaus gekommen. Platon Garin packte das kalte Grausen. Wie gelähmt sah er Amlinski bei seinem makabren Stepptanz zu, der das Geschirr auf dem Tisch zum Klingen brachte; mit Kopf und Gesäß vollführte der Professor seltsam kreisende Bewegungen, ging abwechselnd ein wenig in die Knie und richtete sich wieder auf, nickte in einem fort und zwinkerte den Anwesenden zu. Neben Garin stand auf einmal die Müllerin – prächtig gewandet, das volle, gepflegte Gesicht von reichlich Brillanten gerahmt. Sie war Amlinskis Frau, und das seit Langem. Parfümdüfte gingen von ihr aus und die süßen Dünste ihres glatten, kultivierten Leibes, sie neigte ihr strahlendes Gesicht zu Garin herüber und flüsterte ihm zu mit lüsternem Lächeln: »Pompös, pompös! Ein Fingerzeig von Fleisch und Blut!«
Er schrak auf.
In dem Moment, wo der Doktor sich rührte, erfasste ihn ein heftiger Schüttelfrost. Bibbernd schob er sich die Mütze von den Augen. Es war finster und kalt. Der Krächz hackte im Dunkeln mit dem Beil auf etwas herum. Der Mond war hinter den Wolken verschwunden.
Entschlossener regte der Doktor die Glieder, doch der Schüttelfrost hielt ihn so gepackt, dass ein Stöhnen sich seinen Lippen entrang; die Zähne schlugen hörbar aufeinander. Mit einem Mal hatte er Angst. Nie zuvor im Leben hatte er so schrecklich gefroren, die Kälte so bis ins Mark gespürt. Und niemals mehr, so schien ihm jetzt,würde er herausfinden aus dieser elenden endlosen Winternacht.
»Lil-li-be-be-berg-got-te-tet …«, fing er zähneklappernd zu beten an; es war, als würden seine Kiefer durch einen Motor der Firma Klatzer angetrieben.
Der Krächz hackte im
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