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Der Schneesturm

Der Schneesturm

Titel: Der Schneesturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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unternahm einen neuen Versuch, sich zu bewegen. Es ging nicht. Der Körper verweigerte den Gehorsam, es war, als existierte er nicht. Der Doktor riss den Mund auf, die Lippen klebten aneinander; er sog die scharfe, frostige Luft in seine Lungen. Ließ sie wieder ausströmen. Sein Atem wölkte sich im Sonnenlicht. Die Pferdchen trippelten über ihn hinweg. Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es dem Doktor, den Kopf anzuheben. Sein Kinn stieß in etwas Glattes, Kühles. Aus seiner Mütze kamen Pferde gesprungen. Der Doktor bewegte sich ein wenig. Davon fuhr ihm ein heftiger Schmerz durch Rücken und Schultern. Alles Übrige war taub und steif.
    Der Mund ging ihm auf, ein Stöhnen hätte ihm entfahren sollen, ein schwaches Röcheln kam heraus. Der Doktor hätte sich gern aufgesetzt. Doch etwas an seinem Körper hinderte ihn daran; die Beine vor allem, die er überhaupt nicht spüren konnte.
    Schmerzhaft stach die Sonne ihm in die Augen. Sein Kneifer fiel dem Doktor ein, er tastete danach auf seiner Brust. Doch die Finger spielten nicht mit, und da war etwas Kaltes, Kräftiges, das im Weg lag. Am Ende fand sich der Kneifer aber doch. Der Doktor zerrte ihn sich vor das Gesicht.
    Auf einmal waren draußen menschliche Stimmen zu hören – laut und vernehmlich! Harsch wurde die Matte von der Kaube gerissen, und im nächsten Augenblick hingen zwei menschenähnliche Schemen über des Doktors Kopf, verdeckten die Sonne.
    »Niao hai huozhe ma?«
Anmerkung
, tönte der eine Schemen.
    »Wo kao!«
Anmerkung
, grinste der andere.

    Blinzelnd hielt der Doktor sich den Kneifer vor. Über ihn gebeugt standen zwei Chinesen. Die Pferdchen wieherten und schnaubten. Den Kneifer vor den Augen, wollte der Doktor sich drehen, doch die Schnur des Kneifers hing irgendwo fest. Nicht irgendwo, sondern an der Nase vom Krächz, dessen Gesicht ganz nah war und, so schien es, die ganze Kaube ausfüllte. Dieses Riesengesicht war leblos, wächsern und weiß, nur die Nasenspitze blau. In den bereiften Wimpern und im vereisten Bart funkelte die Sonne. Die fahlen Lippen waren in der Andeutung eines Lächelns erstarrt. Das Vogelhafte, Spöttisch-Selbstgewisse, das weder zu verblüffen noch einzuschüchtern war, es trat aus diesem toten Gesicht mehr denn je hervor.
    Eine lebendige Hand fuhr von oben herein, griff dem Krächz ins Gesicht.
    »Gualhe!«
Anmerkung
    Eine andere Hand rührte mit warmen, plumpen Fingern an des Doktors Wangen.
    »Lebst du noch?«, kam die Frage auf Russisch.
    Und schlagartig fiel dem Doktor alles wieder ein.
    »Wer bist du?«, wurde gefragt.
    Er öffnete den Mund, um zu antworten, doch anstelle der Worte drang nur ein dampfendes Röcheln hervor.
    »Woshi yisheng«
Anmerkung
, röchelte der Doktor in seinem grässlichen Chinesisch, »bangzhu … bangzhu … qing ban wo.«
Anmerkung
    »Doktor?«
    »Woshi yisheng, woshi yisheng«, krächzte Platon Garin, und seine Hand mit dem Kneifer zitterte.

    Der ältere der beiden Männer zückte sein Telefon und gab auf Chinesisch Anweisungen.
    »Son, bring einen Sack rüber, hier ist alles voll kleiner Pferde. Und bring Ma mit, einer lebt noch, aber er ist sauschwer.«
    »Wo seid ihr hergekommen?«, fragte er den Doktor auf Russisch.
    »Woshi yisheng, woshi yisheng«, wiederholte der Doktor.
    »Der kapiert nix«, sagte der andere Chinese. »Hat sich das Hirn verkühlt.«
    Bald darauf tauchten zwei weitere Chinesen auf. Der eine trug einen Sack aus lebend gebärendem Leinen. Die Männer fingen an, die wie von Sinnen wiehernden Pferde einzusammeln und in den Sack zu stopfen.
    »Keine Stuten dabei?«, erkundigte sich der Älteste.
    »Nein. Aber schau, wohin der sich verkrochen hat!« Lachend deutete der Chinese auf die Kruppe des Rotschimmels, die aus dem Ärmel von Krächzens Pelzjoppe ragte. Packte den Schimmel bei den Hinterbeinen und zerrte ihn aus dem Ärmel. Der Rotschimmel ließ ein verzweifeltes Wiehern hören.
    »Gut bei Stimme!«, sagte der Älteste feixend.
    Als sämtliche Pferdchen im Sack waren, deutete er auf den Doktor.
    »Holt ihn raus da.«
    Die Chinesen gingen daran, den Doktor aus der Kaube zu hieven. Was nicht so einfach war: Garins Beine verhedderten sich mit denen des Toten, und der Parka war in einer Ecke an den Planken angefroren. Aber der Doktor verstand, dass man dabei war, ihn zu retten.
    »Xie-xie ni«
Anmerkung
, krächzte er, während er mit ungelenkenBewegungen versuchte, den Chinesen entgegenzukommen.
    Zu viert zogen sie ihn aus dem Mobil und legten ihn in den

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