Der Schneider himmlischer Hosen
obgleich ich wußte, daß ihre Eltern — wie die meinen — verschiedenen Völkern angehörten. Am liebsten las sie englische oder amerikanische Bücher und freute sich so sehr mit «Tom Sawyer», daß ich «Huckleberry Finn» folgen ließ.
Mit sechzehn Jahren verließ Kuniang die Klosterschule, und von da an blieb ihr Bildungsgang mehr oder minder dem Zufall überlassen. Signor Cante konnte sie nicht gut auf die Strecke mitnehmen, wo ständig Generäle und Marschälle, die den Bürgerkrieg für ihren Beruf halten, einander Gefechte liefern. Hätte er sie völlig meiner Obhut anvertraut und mich nach bestem Wissen für sie sorgen lassen, ihre Erziehung wäre vielleicht einheitlicher ausgefallen. Aber nach Signor Cantes Meinung hieß das zuviel von mir verlangt. So vertraute er seine Tochter unaufhörlich neuen Leuten an, und was sie von den einander ablösenden Lehrern lernte, war hauptsächlich die Anpassung an deren jeweilige Denkart. Übrigens dürfte ihr die chinesische Umgebung geholfen haben, sich mit dieser unbefriedigenden Welt möglichst gut abzufinden; jedenfalls hatte sich Kuniang allem Anschein nach, noch ehe sie zwanzig zählte, zu einer Philosophie der Geduld durchgerungen, dank der sie mit einem gewissen Gleichmut die Launen ihrer Mitmenschen hinnahm, auch wenn sie darunter litt.
Eines Tages besuchte sie mich nach dem Mittagessen, zu einer Stunde, da mehrere Antiquitätenverkäufer und Händler von Samt- und Seidenstoffen auf mich warteten, um ihre Waren zu zeigen. Es gibt eine Anzahl Seidenhändler in Peking, die in mir ihr Lieblingsopfer sehen. Seit ich meinen Wohnsitz im Heim der Fünf Tugenden aufgeschlagen habe, erscheinen sie täglich, oder nahezu täglich, und dringen bei mir ein, weil sie hoffen, mich vielleicht doch zu einem Kauf zu überreden. Sie breiten ihre Waren auf dem Boden des Arbeitszimmers oder draußen auf der Veranda aus, und dann handeln wir eine Stunde lang um den Preis eines Stückes Samt oder um einen alten Damast.
«Wie kommt es, daß ich dich in letzter Zeit so selten sehe?» fragte ich Kuniang, sobald die Seidenhändler gegangen waren. «Als du noch klein warst, hast du mich recht oft besucht.»
«Ja, meistens wenn ich hingefallen bin und mir das Knie aufgerissen habe», erwiderte sie. «Aber heute schinde ich mir die Knie nur selten auf.»
Sie saß in einem Armsessel mir gegenüber und ließ die Beine über die Lehne hängen. Ihre Knie — obzwar nicht aufgeschunden — waren recht deutlich zu sehen, und zwischen dem Rand des Kleides und den aufgerollten Strumpfenden zeigte sich ein merklicher Zwischenraum. Die Mode der sehr kurzen Röcke, die eben aufkam, fand in Kuniang eine begeisterte Anhängerin — oder die Kleine hatte bloß ihre Kleider ausgewachsen.
«Hast du denn keinen anderen Anlaß, zu mir zu kommen?» fragte ich. «Vergiß nicht, daß du die Hälfte des Kristallsiegels verwahrst.»
«Ich wüßte nicht, worüber ich klagen sollte. Eben hat Papa angeordnet, daß ich den Geschichtsunterricht in der amerikanischen Missionsschule nicht mehr zu besuchen brauche. Ich bin froh darüber.»
«Magst du denn die Missionare nicht?»
«So weit sind sie ja ganz nett und freundlich. Aber zu sehr chinesische Ölgötzen. Das ist zwar vermutlich ihr Lebenszweck — bei einem Priester oder einer Nonne erwarte ich es auch nicht anders —, aber bei einem Familienvater kann ich es nicht leiden. Die Lehrer versprechen immer, mich zu Christus zu führen — und dann marschieren sie ab, nach Pei-ta-ho, um im Meer zu baden, während ich in der Hitze hierbleiben muß. Geht etwas schief, so raten sie einem, auf Gott zu vertrauen. Aber ich glaube nicht, daß sie selbst viel auf Gott vertrauen. Keiner von ihnen hat mehr als drei Kinder.»
«Wie hängt das zusammen?»
«Ich hab einmal gehört, daß die Mission für jedes Kind unter vier einen Erziehungsbeitrag zahlt. Ich meine natürlich nicht: unter vier Jahren. Sondern man darf auf Kosten der Mission bis zu drei Stück Kinder kriegen. Für die übrigen muß man selbst zahlen.»
Ich dachte ein paar Minuten über diese Erklärung nach, dann meinte ich:
«Das dürfte aber kaum der Grund sein, warum dich dein Vater den Geschichtsunterricht nicht mehr besuchen läßt.»
«Gewiß nicht. Ich habe nicht genug gelernt — wahrscheinlich bin ich schuld daran. Ich glaube, Papa will mit dir über meine Erziehung sprechen. Er hat gefragt, ob er dich besuchen kann, ehe er nach Kai-feng Fu fährt.»
«Selbstverständlich. Seit er in
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