Der Schneider himmlischer Hosen
ihn eben wieder in Schlaf versenken. Ich verstehe den Abt nicht. Was hat es für einen Sinn, dem armen Paul ein zweites Leben zu schenken, wenn es quälender ist als sein eigenes?»
Ich wußte keine Antwort auf diese Frage, obwohl ich nun Elisalex’ Warnung besser verstand. In Pauls Traumleben hinter den Toren des Elfenbeinkäfigs ging etwas Entsetzliches vor. Kuniang spürte es, obgleich sie die Zusammenhänge nicht ahnte. Plötzlich durchschrillte ein Schrei die Stille. Er kam aus dem Pavillon, in dem Paul lag. Kuniang lief auf den Pavillon zu, aus dem der Schrei drang, und ich folgte ihr. Die Tür, die von Pauls Zimmer in den Hof führte, stand offen, und als wir näher kamen, gellte uns ein zweiter Schrei entgegen, gräßlicher noch als der erste.
Ich betrat Pauls Zimmer dicht hinter Kuniang, blieb aber bei der Tür stehen. Drinnen befand sich der Abt, im orangegelben Priesterornat. Er stand ein wenig abseits vom Bett, als sei er zurückgetreten, um einen größeren Abstand zwischen sich und Paul zu schaffen. Das Antlitz des Abtes war unbewegt und gleichmütig wie stets, doch sein Auge ruhte auf Paul und schien diesen zu bannen.
Paul aber lag nicht auf dem chinesischen Bett. Aufrecht stand er da, mit einer Hand an die Wand gestützt, um nicht zu fallen. Über den Pyjamahosen trug er ein schwarzseidenes Dressinggown. Sein Gesicht war grau und verzerrt, von Schmerz, von Entsetzen oder von beidem. Blut sickerte aus seinen Lippen, die er zerbissen hatte. Die Augen zeigten das blicklose Starren des Hypnotisierten.
Kuniang lief hastig auf ihn zu und legte zur Stütze den Arm um seine Schulter. Dabei wandte sie das Gesicht dem Abt zu. Offenbar wollte sie ihm sagen, er solle Paul aus dem Traum wecken. Aber als ihr Blick dem Auge des Abtes begegnete, wurde ihr Körper steif, und das Gesicht verlor allen Ausdruck. So standen wir eine Sekunde: ich bei der Tür als Zuschauer, der Abt ein wenig seitwärts; er hatte die Arme unter dem orangefarbenen Gewand gefaltet, und sein Blick ruhte auf den beiden.
Kuniang war Paul zu Hilfe geeilt, dabei aber selbst von der Macht überwältigt worden, die ihn träumen ließ. Und für einen Zeitraum, der nicht länger gewesen sein kann als eine Minute, teilte sie Pauls Traum. Dann machte der Abt eine Handbewegung, und Paul und Kuniang wurden wieder sie selbst.
Aber das war noch nicht alles.
Kuniang führte Paul zum Bett zurück, als wäre er ein Kind. Und tatsächlich erinnerte die Szene an das Aufschrecken eines Kindes aus einem Alptraum. Ich konnte sehen, wie Paul am ganzen Körper zitterte.
«Kuniang», keuchte er, «liebe kleine Kuniang! Du bist hier, hier neben mir. Ich bin Paul und du bist Kuniang, und alles andere ist ein Traum, ein abscheulicher Traum. Aber nun ist alles zu Ende, und ich muß nicht mehr träumen. Gott sei Dank! Gott sei Dank! Gott sei Dank!!!»
Kuniang half ihm, sich niederzulegen, und schob ihm ein Kissen unter den Kopf. Er lag auf dem Rücken und lächelte ihr zu. «Liebe kleine Kuniang», wiederholte er, aber sehr leise; dann vergrub er das Gesicht im Polster, seufzte auf und schloß die Augen wie ein müdes Kind, das glücklich ist, im Bett liegen zu dürfen. Lange Zeit lag er regungslos. Endlich trat der Abt einen Schritt vor und berührte Kuniang an der Schulter. Sie sah verwundert zu ihm auf. Da sagte er mit großem Ernst: «Sie müssen jetzt gehen. Es ist vorbei.»
Und er gab mir ein Zeichen, ich möge sie wegführen.
Schatten des Traumes
1
Signor Cantes Leichnam wurde nach Peking überführt und auf dem kleinen Friedhof im Südosten der Tatarenstadt beerdigt, wo seit 1901, seit den Tagen des Pekinger Protokolls, Italiener, Deutsche und Österreicher die letzte Ruhe gefunden und in ihrer gemeinsamen Begräbnisstätte den alten Dreibund erneuert haben.
Paul wurde im englischen Friedhof außerhalb der Tatarenmauer begraben. Für die Erfüllung der nötigen Formalitäten sorgte die Gesandtschaft. Einige Tage später erhielt Kuniang von einer Anwaltskanzlei aus Tientsin die Mitteilung, Paul habe ihr den Rest des ihm von Jeremiah Mettray hinterlassenen Vermögens zugedacht. Auch Signor Cante hatte seiner Tochter Ersparnisse hinterlassen. Nun war Kuniang reich und unabhängig. Wenn sie mich heiratete, so geschah es keineswegs aus Zwang.
Die Aufeinanderfolge von Begräbnis und Hochzeit mißfällt mir ungemein. Ich habe das Gefühl, daß sie Unglück bringt, wie es beim letzten Zaren der Fall gewesen ist. Darum war es nicht nur
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