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Der Schneider himmlischer Hosen

Der Schneider himmlischer Hosen

Titel: Der Schneider himmlischer Hosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniele Varè
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bemerkte trocken:
    «Du hast recht, wenn du vermutest, daß dies sogar für Sibirien ungewöhnlich ist. Aber es ist noch lange nicht entsetzlich.»
    «Aus irgendeinem Grund — ich weiß nicht mehr warum — hing das Entsetzen mit einem großen, blitzenden Juwel zusammen, das an einer Platinkette von Kuniangs Hals herabhing. Es war ein Diamantstern, vermutlich das Alexanderkreuz. Es hing zwischen ihren Brüsten.»
    «Glaubst du, daß Kuniang das Entsetzliche, das ihr bevorstand, spürte wie du?»
    «Jawohl. Bestimmt. Sie flüsterte ununterbrochen: Und jetzt hat das Entsetzen auch mich erfaßt. Es verläßt mich nur, wenn wir beisammen sind, du und ich. Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und schreie nach dir um Hilfe. Und du bist nicht da.»
     
     
     

2
     
    Ereignet es sich in der Geschichte von Lanzelot und Ginevra oder irgendwo in der Nibelungensage, daß der Ritter mit der Jungfrau schlafen gehen muß und das nackte Schwert zwischen sich und sie legt, als Zeichen, daß sie einander nicht umarmen dürfen?
    Genau so kam ich mir in jenen Tagen vor, nur mit dem Unterschied, daß Kuniang — bis auf die Nachtstunden, da wir uns trennten und jeder in seinen Pavillon schlafen ging — oftmals in meinen Armen Schutz suchte. Sie, die so unabhängig gewesen war und so selbständig, die alles, was kam, so mutig hingenommen hatte, suchte jetzt meinen Schutz in beinahe krankhafter Angst. Aber das blieb wohl nicht immer so: Kuniangs Jugend würde sich selber helfen, wenn ich mich nur in dieser schweren Zeit liebevoll genug ihrer annahm.
    Gleichzeitig lastete auf mir die volle Verantwortung für ihre Zukunft und die Pflicht, sie keinen Fehler begehen zu lassen, trotzdem ihre Nerven durch die vergangenen traurigen Ereignisse arg mitgenommen waren. Aber zuzeiten fragte ich mich, ob ich aus lauter Gewissenhaftigkeit nicht vielleicht hartherzig sei. War es gerecht, sie zu einer Trauungszeremonie zu zwingen, deren bloße Erwähnung ihr nervöses Entsetzen einjagte? Ich dachte an Pflicht, an Konvention und Anstand, da sie nichts wollte als Liebe. Man kann Ärgeres tun als Fehler begehen. Nur auf Güte und Verständnis kommt es an. Wie oft sind die Dinge, die wir im Alter am wenigsten bereuen, die Fehler, die wir begangen haben!
    Schließlich traf Onkel Podger eine Entscheidung. Onkel Podger besitzt viel von der alten Weisheit des Ostens. Wenn er nur nicht so entsetzlich arrogant wäre!
     
    Fjodor hatte uns nach dem Abendessen besucht und eine gute Stunde lang von seinen Plänen erzählt.
    Er stand mit einem führenden russischen Revolutionär in Verbindung und sollte demnächst nach Moskau fahren. Vom russischen Standpunkt aus hatte er den unschätzbaren Vorteil, daß er mit der chinesischen Sprache und den chinesischen Menschen vertraut war. Zu jener Zeit gab es unter den russischen Revolutionären nur wenig Sinologen von Rang, und Fjodor konnte an der russisch-chinesischen Grenze, aber auch anderswo, wertvolle Dienste leisten.
    Seine Sympathien gehörten der zweiten Revolution (von der Kerenskij eben gestürzt worden war), und er gebärdete sich wie das Neue Rußland in eigener Person, das Neue Rußland, in das sich das Alte Rußland verwandelt hatte. Trotzdem kamen mir seine Vorstellungen dieses neuen Rußlands reichlich verschwommen vor. Er vertrat etwa die Meinung, es wäre für seine Landsleute das beste, sich von der übrigen Welt mit ihren sinnlosen Kriegen und jämmerlichen Finanzspekulationen abzusperren und allein im eigenen Paradies zu leben. Die einzigen Beziehungen, die Rußland aufrechterhalten sollte, waren nach Fjodors Meinung die zum Osten.
     
    Nachdem er uns verlassen hatte, ging Kuniang schlafen. Sie schien besserer Stimmung als sonst. Ich blieb im Arbeitszimmer zurück, wo ich las und schrieb. Gegen Mitternacht stand ich vom Schreibtisch auf und drehte, ehe ich mich in mein Zimmer begab, das Licht ab. Die Nacht war finster. Und als ich die Stufen zum gepflasterten Weg hinunterging, fiel ich beinahe über Onkel Podger. Er saß da und wartete offenbar, daß ich herauskäme, obgleich ihn Kuniang vor mehr als einer Stunde ins Bett mitgenommen hatte.
    «Podger», sagte ich, «geh in dein Zimmer zurück. Was ist das für eine Art, das Frauchen einfach im Stich zu lassen?»
    Onkel Podger trottete hinter mir drein, aber als wir zu Kuniangs Pavillon kamen, lief er voraus und verschwand. Ich ging ihm nach und stellte fest, daß die Tür nicht ganz

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